Mittelbayerische, 30.August 2005
Die Arzneimittel-Kosten explodieren
Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen schlagen Alarm –
Defizit befürchtet
Von unserem Berliner Korrespondenten Martin Ferber
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 11,1 Milliarden Euro haben die gesetzlichen Krankenkassen in den ersten sechs Monaten des Jahres für Medikamente ausgegeben, das sind 1,86 Milliarden mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Bleibt es bei dieser Entwicklung, könnten die Kosten für Arzneimittel bis zum Jahresende auf rund 24 Milliarden Euro klettern, das wären vier Milliarden Euro mehr als im Vorjahr.
Kein Wunder, daß die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen schon jetzt Alarm schlagen. Die Kostenexplosion allein bei den Medikamenten könnte im kommenden Jahr zu einer "Welle von Beitragssatzerhöhungen" führen, sagte der Sprecher der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK), Jörg Bodanowitz, am Freitag. Auch der Vorstandschef der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH), Ingo Kailuweit, rechnet bundesweit mit leicht steigenden Beiträgen, sollte der Anstieg der Arzneimittelausgaben ungebremst anhalten. Nach seinen Prognosen droht den gesetzlichen Krankenkassen in diesem Jahr ein Defizit von 600 bis 700 Mio. Euro, nachdem sie im vergangenen Jahr als Folge der von Koalition und Opposition verabschiedeten Gesundheitsreform noch einen Überschuss von rund vier Milliarden Euro erwirtschaftet haben.
Die Kostenexplosion bei den Arzneimittelausgaben hat mehrere Gründe. Zum einen sind die im Rahmen der Gesundheitsreform gesetzlich vorgeschriebenen Rabatte, die die Pharmafirmen den Krankenkassen gewähren müssen, von 16 auf sechs Prozent gesunken, zudem lief die Preisbindung von Arzneimitteln aus. Nicht zuletzt haben die Ärzte wieder mehr Medikamente verschrieben und deutlich mehr Patienten als im Vorjahr sind von den Zuzahlungen befreit. All dies summiert sich zu einer Milliardensumme.
Ein erster Versuch von Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen, den Kostenanstieg, im Arzneimittelbereich in den Griff zu bekommen, war am Mittwoch gescheitert, die Vertreter der Ärzteschaft weigerten sich, Obergrenzen bei der Verschreibung und pauschale Abzüge bei Ärzten mit überdurchschnittlich vielen und teuren Verordnungen einzufahren Die Kassen kritisierten die "Verweigerungshaltung" der Ärzteschaft stark. "So schnell geben wir den Kampf um günstige Beiträge nicht auf", sagte der Sprecher des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen, Florian Lanz. Vereinzelt wurde sogar der Ruf nach dem Gesetzgeber laut. "Wenn die Ärzte bei ihrer Verweigerungshaltung bleiben, muss der Gesetzgeber handeln", forderte AOK-Sprecher Udo Barske. Er könne dafür sorgen, dass sich unwirtschaftliche Verordnungen für Ärzte nicht mehr lohnen.
Nichts allerdings scheinen alle Beteiligten im Gesundheitssystem mehr zu fürchten als ein Eingreifen der Politik in die Selbstverwaltung. Noch am Freitag signalisierten die Kassen-, ärztliche Bundesvereinigung und die gesetzlichen Krankenkassen ihre Bereitschaft zu neuen Verhandlungen, um das Problem der explodierenden Arzneimittelausgaben in den Griff zu bekommen. Experten beider Seiten würden sich im Spätsommer erneut treffen, hieß es.
Auch der Gesundheitsexperte der Union, Wolfgang Zöller (CSU), appellierte an Kassen und Ärzte, sich zu einigen. Wenn die Selbstverwaltung jetzt nach dem Gesetzgeber rufe, stelle sie sich selbst in Frage, da sie einräume, dass sie ihre Hausaufgaben nicht machen könne. Entschieden lehnte Zöller dagegen die Forderung von Barmer-Chef Eckart Fiedler nach einer gesetzlichen Obergrenze für Arzneimittelausgaben oder nach einer Erhöhung des Rabatts ab. Dies wurde die Pharma-Industrie in Deutschland benachteiligen und zu einer Abwanderung ins Ausland führen. Die Gesundheitsexpertin der Grünen, Birgitt Bender, forderte die Kassenärztliche Vereinigung zur Aufklärung darüber auf, warum die Kostensteuerung "nur in wenigen Bundesländern gelingt und die dortigen Erfahrungen und Systeme nicht in allen Bundesländern Anwendung finden. "
Kommentar:
UNFÄHIG
Von Martin Ferber
Um den Kunden, in diesem Falle den Beitragszahler, geht es ohnehin nicht. Der wird gerupft wie eine Martinsgans und ausgequetscht wie eine Zitrone. Schon jetzt muss er neben dem hohen Beitragssatz zur Krankenversicherung zahlen ohne Ende: zehn Euro Praxisgebühr, Zuzahlungen für jedes verschriebene Medikament und Privatrechnungen für Behandlungen, die aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen worden sind.
Das Geld reicht dennoch nicht. Trotz der erst in dieser Legislaturperiode von Koalition und Opposition gemeinsam verabschiedeten Reform des Gesundheitssystems rechnen die gesetzlichen Krankenkassen zum Jahresende mit einem Minus von 600 bis 700 Millionen Euro und drohen mit einer Welle von Beitragserhöhungen. Grund: Die Kosten für Arzneimittel explodieren, weil die Ärzte wieder mehr verschreiben, die Rabatte, die die Pharmafirmen den Krankenkassen gewähren (müssen), in diesem Jahr gesunken sind und die Preisbindung für Medikamente ausgelaufen ist. Und obwohl es um die Gelder der Beitragszahler geht, ist die Selbstverwaltung unfähig, das Problem zu lösen. Statt auf eine Kostendämpfung zu drängen, spielen Krankenkassen, kassenärztliche Vereinigung und Politik das allseits beliebte Schwarzer-Peter-Spiel und schieben die Verantwortung weiter. Der Dumme ist der Beitragszahler und die Wirtschaft, denn steigende Kassenbeiträge bedeuten höhere Lohnnebenkosten.
Einmal mehr zeigt sich: Im Gesundheitssystem besteht kein Einnahmeproblem, sondern ein Ausgabeproblem. Allen Bemühungen des Gesetzgebers zum Trotz herrscht im System offensichtlich noch immer eine ungenierte Selbstbedienungsmentalität der Leistungserbringer. Die Lasten werden einseitig den Versicherten aufgebürdet. Daran ändern weder die geplante Kopfpauschale der Union noch die Bürgerversicherung von SPD und Grünen etwas. Auch sie sind einzig darauf ausgerichtet, mehr Geld in das System zu pumpen, statt auf der Ausgabenseite anzusetzen und die Leistungen zu steuern und zu begrenzen.
Die Selbstverwaltung entpuppt sich einmal mehr als größtes Hindernis auf dem Weg zu einer wirklichen Reform des verkrusteten Gesundheitswesens. Es gilt das alte Wort von Friedrich Merz, daß man die Trockenlegung eines Sumpfes nicht den Fröschen überlassen kann.
Straubinger, 10.August 2005
Die Kosten für Arzneimittel steigen stark an
BKK rechnet mit 19 Prozent Mehrausgaben - Kritik am Verschreibungsverhalten der
Ärzte
Berlin. (AP/dpa) Steigende Arzneimittelkosten lassen die Hoffnung auf niedrigere Kassenbeiträge schwinden. Für 2005 rechnen die Betriebskrankenkassen (BKK) mit einem Ausgabenplus von 19 Prozent, wie Verbandschef Wolfgang Schmeinck am Dienstag erklärte. Ursprünglich sei eine Steigerung von 5,8 Prozent vorgesehen gewesen. Die Entwicklung werde aber nicht dazu führen, dass sich der durchschnittliche Beitragssatz von 14,2 Prozent für die Versicherten in diesem Jahr noch erhöhe, sagte Schmeinck.
Der BKK-Bundesverband forderte von den Ärzten ein strengeres Verschreibungsverhalten und verlangte eine Änderung der Apothekenrabatte. Im Jahr 2004 hatten die gesetzlichen Kassen 21 Milliarden Euro für Medikamente ausgegeben. In diesem Jahr werden es nach Schätzung der BKK rund 25 Milliarden Euro sein.
Wie Schmeinck weiter berichtete, wird das Zuzahlungsvolumen der Versicherten mit rund 2,4 Milliarden Euro konstant bleiben. Entscheidende Gründe für den starken Anstieg der Arzneimittelkosten sind laut BKK eine nicht nachvollziehbare Mengenausweitung, die Verschreibung patentgeschützter, teurer Nachahmerpräparate ohne Nutzen für den Patienten sowie die Verringerung des Herstellerrabatts von 16 auf sechs Prozent.
Die Ärzte hätten der Politik zugesagt, die Steuerung der Arzneimittelkosten selbst in die Hand zu nehmen, sagte der BKK-Chef. Daher seien die Mediziner nun in der Pflicht.
Die Kassenärzte widersprachen Schmeinck. Es könne nicht sein, daß Jahr für Jahr immer nur die Ärzte am Pranger stünden, sagte das Vorstandsmitglied der Kassenärztlieben Bundesvereinigung (KBV), Ulrich Weigeldt. Auch die Kassen müßten ihren Teil der Verantwortung für die Medikamentenkosten übernehmen. So müßten sie ihrer Zusage nachkommen, arztindividuelle Daten bereitzustellen.
Schmeinek kritisierte auch die Praxis der Naturalrabatte, die Pharmafirmen den Apothekern einräumen würden. Apotheker würden die Gratispackungen den Kassen zum vollen Preis in Rechnung stellen. Die Kassen hätten keine Gelegenheit nachzuprüfen, zu welchen Konditionen eine Apotheke Medikamente beziehe.
Neben dem Arzneimittelbereich laufen die Kosten laut Schmeinck auch im Krankenhaussektor aus dem Ruder. Hier rechnet die BKK für 2005 mit einer Planüberschreitung von 1,1 Milliarden Euro. Die höheren Kosten könnten zum Teil aber ausgeglichen werden, sagte der BKK-Vorstand.
Die Verhandlungen zwischen Ärzten und Kassen über Köstendämpfungen waren im Juli vorläufig gescheitert. Ärzte, Kassen und Apotheker hatten Ende 2004 vereinbart, dass bewährte statt teuerer Medikamente verordnet werden sollen. Nach früheren KBV-Angaben sollen die Gespräche im Spätsommer wieder aufgenommen werden. Das Gesundheitsministerium rief Ärzte und Kassen auf, die Vereinbarungen besser umzusetzen. Staatssekretär Klaus Theo Schröder ging zudem davon aus, dass sich die Ausgabenexplosion nicht fortsetze. Der Trend werde im zweiten Halbjahr nicht anhalten.