Financial Times, 13.Febr2006
Außenseiter - bitte draußen bleiben
Mindestlohn, Kombilohn: Wir kurieren in der Sozialpolitik immer an Symptomen.
Doch krank ist das System
Margaret Heckel

Nun soll er also ernsthaft kommen, der Mindestlohn. Vizekanzler Franz Müntefering hat sich dazu durchgerungen, Kanzlerin Angela Merkel ebenfalls, für die zweite Jahreshälfte wird ein Gesetzentwurf angekündigt. Schon hat das Geschrei eingesetzt, wie hoch dieser Mindestlohn sein soll: 4 bis 5,9 pro Stunde, wie aus Unionskreisen zu hören ist? Oder 7 bis 8 E, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund gefordert hat? Unzählige Artikel werden sich in den nächsten Wochen und Monaten damit beschäftigen, was denn die richtige Zahl ist. Es wird hitzige Wortgefechte im Bundestag geben, zahllose Talkshows und heftige Streitereien zwischen den Koalitionspartnern.

Und wieder einmal werden wir in Deutschland die falsche Debatte um das richtige Thema führen. Das Thema im breitesten Sinne sind die Sozialsysteme und ihr Funktionieren oder besser Nichtfunktionieren. Doch die Kontroversen hier zu Lande beschäftigen sich immer nur mit den Symptomen: Sollen wir noch ein neues Instrument wie den Mindestlohn einfuhren? Muss die Ich-AG abgeschafft werden? Kombilohn flächendeckend oder doch lieber auf einzelne Gruppen beschränkt?

Nur Insider profitieren

Das alles lenkt vom Wesentlichen ab - der Tatsache, dass die deutschen Sozialsysteme sich buchstäblich gegen die gewendet haben, die sie schützen sollten. Vielleicht braucht es deshalb den kühlen, ausgewogenen Blick von draußen, um zum Kern des Problems vorzustoßen. "Die Systeme nützen jetzt einzelnen Interessengruppen und verstärken so die Kluft zwischen gut abgesicherten Insidern und zunehmend marginalisierten Außenseitern", fasst ein soeben erschienener 14-seitiger Deutschland-Survey des britischen Magazins "Economist"* die Malaise zusammen. Die Insider-Outsider-Problematik ziehe sich durch alle Reformbaustellen - den Arbeitsmarkt, die Bildungspolitik, die Güter- und Produkmärkte.

Geradezu mit den Händen zu greifen, ist sie am Arbeitsmarkt: Seit Jahren wächst die Zahl der Langzeitarbeitslosen, gut die Hälfte der derzeit fünf Millionen Arbeitslosen sucht bereits seit über einem Jahr nach einem Job. In keinem anderen Industriestaat fällt es Außenseitern so schwer, wieder in den Arbeitsprozess zu kommen wie in Deutschland.

Und das, obwohl wir Unmengen von Arbeitsmarktinstrumenten ersinnen und Unsummen von Geld angeblich genau dafür ausgeben, dieser Gruppe zu helfen. Was haben wir nicht alles probiert: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Eingliederungszuschüsse, Job-Rotation rund 80 verschiedene Instrumente hat die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Repertoire. Mit dem Mindest- und dem Kombilohn wären es dann 82. Helfen wird auch dies nicht.

Wie konnte es zu diesem Desaster kommen? Am Anfang stand ein eigentlich löblicher Gedanke: Als Interessenvertreter der Arbeitnehmer haben die Gewerkschaften für die unteren Lohngruppen prozentual stärkere Tarifsteigerungen erstritten als für die höheren. Einfache Arbeit von meist Geringqualifizierten wurde so immer teurer. Als Folge rationalisierten die Unternehmen sie weg, nach dem Motto "Maschine statt Mensch". Ein schlechtes Gewissen brauchte keiner zu haben - den Insidern mit den Jobs ging es von Jahr zu Jahr besser. Die anderen wurden vom sozialen Netz aufgefangen und ruhig gestellt. Dumm nur, dass die Sozialsysteme so immer teurer wurden und die Lohnnebenkosten von Jahr zu Jahr stiegen.

Ein Teufelskreis entstand: Je mehr die zusätzlichen Abgaben auf den Faktor Arbeit wuchsen, also die Lohnnebenkosten, desto mehr Arbeit für Geringqualifizierte wurde abgebaut. Je mehr Arbeitslose ruhig gestellt werden mussten, desto höher stiegen die Lohnnebenkosten.

Inzwischen gibt es kaum mehr Jobs für Geringqualifizierte. Nun soll mit einem neuen Niedriglohnsektor Abhilfe geschaffen werden. Doch wieder ziehen die Insider ihre Schutzzäune hoch. Je höher der Mindestlohn angesetzt wird, desto geringer der Druck auf die existierenden Verhältnisse - und desto niedriger die Zahl der neu geschaffenen Jobs.

Vorgeblich sozial, tatsächlich schädlich

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Insider auf Kosten der Allgemeinheit bereichern, bietet die Frühverrentungspolitik der vergangenen Jahre. Auch hier war das Ausgangsargument anscheinend überaus sozial: Um Jüngeren Jobperspektiven zu eröffnen, wollten Gewerkschaften, Arbeitgeber und die Politik - diesmal in trauten Gemeinschaft -Älteren den früheren Abgang in die Rente versüßen.Also wurde zuerst deren Bezugsdauer von Arbeitslosengeld verlängert, dann wurden allerlei Frühverrentungsmodelle erfunden. Schön für Hunderttausende Frührentner, die mit Ende 50 weitgehend abschlagsfrei in einen jahrzehntelangen Rentenbezug gehen konnten. Schlecht für alle anderen, die das mit steigenden Lohnnebenkosten bezahlen durften. Und beschämend die Reaktion all der Insider, die tatkräftig zu dieser Misere beigetragen haben und nun gegen die zwangsläufig folgende "Rente mit 67" schäumen - egal ob es sich dabei um Ministerpräsidenten der einen oder anderen Volkspartei oder Gewerkschaftsvorsitzende handelt. Denn natürlich war dies alles schon vor einem Jahrzehnt absehbar. Und seit die Frühverrentungsprogramme etwas eingedämmt wurden, steigen die Beschäftigungschancen Älterer wieder, ebenso wie das tatsächliche Renteneintrittsalter.

Dass Deutschland derart unter der Insider-Outsider-Problematik leidet, hat viel mit unserem korporatistischen System zu tun. Weil wir dem Wettbewerb als ordnender Instanz nicht trauen, haben wir vieles an die vermeintlich wohl meinenden "Selbstverwaltungsgremien" abgegeben - und damit aber die kollektive Verantwortungslosigkeit organisiert. Nun müssen wir feststellen, dass statt dem Allgemeinwohl oft nur Einzelinteressen bedient werden. Dieses System zu verändern wird sehr schwer. Ein erster Schritt aber muss sein, sich dessen erst mal bewusst zu werden.

E-MAIL heckel.margaret@ftd.de
MARGARET HECKEL leitet das Politikressort der FTD.
Sie schreibt jeden zweiten Montag an dieser Stelle.
' Economist, 11. Februar 2006, "Waiting for a Wunder"

 

"Nirgendwo fällt es Außenseitern so schwer, wieder einen Job zu finden, wie                                              in Deutschland"

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