18.Dec2004

Türkei stößt die Tür nach Europa weit auf
Ankara sagt die Anerkennung Zyperns zu – Schüssel kündigt Referendum an -
Verhandlungen mit Kroatien

Brüssel. (AP/dpa) Nach 40 Jahre langem Warten hat die Türkei die Tür für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ein entscheidendes Stück aufgestoßen. Die EU-Staats- und Regierungschefs verständigten sich am Freitag mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan auf den Beginn von Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober 2005. Die Türkei sagte im Gegenzug zu, das EU-Mitglied Zypern bis zur Aufnahme der Verhandlungen anzuerkennen. Österreich will die Bevölkerung über den EU-Beitritt des Landes abstimmen lassen.

Auf das Datum hatten sich - wie in einem Teil unserer Auflage bereits berichtet - die Staats- und Regierungschefs bereits am späten Donnerstagabend verständigt. Erdogan wies das Angebot für den Verhandlungsbeginn allerdings in der Nacht zum Freitag zurück, weil die EU eine sofortige Anerkennung Zyperns gefordert hatte.

Der zyprische Staatspräsident Tassos Papadopoulos drohte andernfalls mit einem Veto des gesamten Türkei-Beschlusses. Ratspräsident Balkenende setzte die Verhandlungen am Freitagmorgen mit Einzelgesprächen fort. Die faktische Anerkennung Zyperns soll dadurch vollzogen werden, dass die Türkei die Erweiterung eines Zollabkommens mit der EU auf die zehn neuen EU-Mitglieder unterzeichnet. Da Zypern unter diesen Ländern ist, käme dies einer Anerkennung gleich.

Sollte die Türkei vom Reformkurs abrücken, können die Verhandlungen ausgesetzt werden. Dies soll auf Antrag der EU-Kommission oder einem Drittel der EU-Staaten vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. Die Verhandlungen sollen mit dem Ziel eines Beitritts geführt werden, ohne dass es dafür eine Garantie gibt.

Sollte sich herausstellen, dass die Türkei nicht beitreten könne, muss dem Beschluss zufolge garantiert sein, dass das Land in den EU-Strukturen verankert ist. Im Fall eines Beitritts der Türkei behält sich die EU die Möglichkeit von Ausnahmeregeln und permanenter Schutzklauseln vor. Hier geht es vor allem um die Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Zudem beschloss der Gipfel, am 17. März 2005 Beitrittsverhandlungen mit Kroatien aufzunehmen.

 

LEITARTIKEL
EINLADUNG MIT BÖSEN FOLGEN
VON FRIDOLIN M. RÜB

Ob zwischen Geschichtsvergessenheit und dem inflationären Gebrauch des Wortes "historisch" ein Zusammenhang besteht? Mit Blick auf den EU-Gipfel in Brüssel und hier unter den Aspekt "Ironie der Geschichte" gestellt, scheint die Frage berechtigt.

Die Einladung an die Türkei zur Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel eines Beitritts zur EU, verdient das Attribut "historisch ", weil das die vorweggenommene Aufnahme eines islamisch geprägten Landes, dessen Staatsgebiet zu 97 Prozent in Kleinasien liegt, in eine bislang abendländisch geprägte Europäische Union bedeutet. Und so ist - unter obigem Aspekt - auch unserem Kanzler Gerhard Schröder zuzustimmen, wenn er von einem Schritt von historischer Tragweite redet. Denn die hat der Schritt allemal. Was den Osmanen über Jahrhunderte hinweg nicht gelang, woran die (laizistischen) Kemalisten scheiterten, das erreicht nun eine verbal gemäßigte islamistische Regierung per Einladung: Der Türkei wird die Tür zu Europa aufgetan. Wien 1683 - Brüssel 2004, wenn das keine Ironie der Geschichte ist!

Bislang ist es der EU, wenn auch schlecht und recht, letztlich immer gelungen, Erweiterung, Integration und Vertiefung miteinander zu vereinbaren. Mit dem Beitritt der Türkei dürfte sich derartiges Bemühen erübrigen. Ihre Aufnahme wird die Integrationsfähigkeit der EU überfordern. Und von dem einstigen Großthema, der Vertiefung zur politischen Union, einer Vertiefung, die Außenminister Joschka Fischer noch vor wenigen Jahren gar nicht tief genug sein konnte, spricht, seit sie die Türkei-Euphorie gepackt hat, ohnehin keiner unserer rot-grünen Weltpolitiker mehr.

Aber die Frage, ob die Türkei in die EU gehört, ist auch nach der Entscheidung des Brüsseler Gipfels, am 3. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit Ankara zu beginnen, nicht beantwortet. Vieles, sehr vieles spricht dagegen.

So schrieb der - populistischer Umtriebe unverdächtige - sozialistische Senator und frühere französische Justizminister Robert Badinter kürzlich in der FAZ: "Die Aufnahme des Schwellenlandes Türkei wird unvermeidlich zur Senkung der Sozial- und Umweltstandards führen. Wir können uns dann von unserem auf Solidarität gegründeten Gesellschaftsmodell verabschieden ... Die Stellung der Frauen in der Türkei entspricht nicht dem Gleichheitsprinzip. Es reicht nicht, die Gesetze zu ändern, die Praktiken und Mentalitäten müssen in dem Land einen tief gehenden Wandel erfahren. Die Weigerung der Türken, den Genozid am armenischen Volk anzuerkennen, ist ebenfalls schockierend. Ohne die Vergangenheitsbewältigung hätten sich Franzosen und Deutsche nie versöhnen und ein politisches Europa aufbauen können. Ein Souveränitätsverzicht zugunsten der EU bedarf der öffentlichen Anerkennung der Fehler der Vergangenheit. Die Türken sind davon weit entfernt." Die Mängelliste lässt sich fortsetzen. Bis heute sind christliche und andere religiöse Gemeinschaften in der Türkei nicht gleichberechtigt. Den Kirchen wird weiter der öffentlich rechtliche Status vorenthalten. Die Priester-Ausbildung ist untersagt. Konfisziertes kirchliche Eigentum wurde nur in wenige Ausnahmefällen zurückgegeben. Die Kurdenfrage harrt noch immer einer Lösung. Rund 3 500 kurdische politische Gefangene warten - bis dato vergeblich - auf ein Amnestie. Ob Minderheitenschutz, Folterverbot oder Pressefreiheit - an allem hapert es. Und es ist auch nicht mit EU Ansprüchen vereinbar, dass sich die Türkei - bis auf den letzten Drücker - weigerte, den EU-Mitgliedstaat Zypern anzuerkennen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Ankara bis heute 180 000 griechisch-orthodoxen, aber auch maronitischen und armenischen Zyprioten die Rückkehr in das 1974 von 30 000 türkischen Soldaten und 300 Panzern besetzte Nordzypern verweigert. Die Türkei denkt auch nicht daran, seine Besatzungstruppen abzuziehen.

Das alles sind Belege dafür, dass die EU mit der Türkei über gar manches, aber bestimmt nicht über einen Beitritt verhandeln sollte. Doch die in Menschenrechtsfragen sonst so feinfühligen Sozialdemokraten und Grünen scheint das nicht groß zu stören. Stattdessen werden Schreckensvisionen entworfen: Die Türkei drifte ab in den Islamismus, wenn die EU sie ablehnt. Und das Zusatzargument, die hier lebenden Muslime würden im Fall der Nichtaufnahme der Türkei radikalisiert und ausgegrenzt, kommt realiter der Selbsterpressung nahe.

Andersherum wird ein Schuh draus: Wenn die Eingliederung der bereits in Deutschland lebenden knapp drei Millionen Türken heute nicht gelingt, wie soll dann die Aufnahme von ca. 90 Millionen Türken in die EU in zehn oder 15 Jahren klappen? Und der Beitritt der Türkei wird kommen, denn bis dato haben alle Beitrittsgespräche (mit Ausnahme Norwegens) zur EU-Vollmitgliedschaft geführt.

Doch mit dem Beitritt Ankaras wird sich der Charakter der EU dramatisch verändern. Denn Europa und die Türkei trennt mehr als ein Reformdefizit hier und eine orientalische Eigenart da. Wer wie Schröder und Fischer -,den Beitritt der Türkei voranbringt, der begibt sich auf einen Weg, an dessen Ende die Enteuropäisierung der EU steht. Des Kanzlers Liblinghistoriker, Prof. Heinrich August Winkler, schrieb in einem Essay: "Eine EU, die auch die Türkei umfasst, könnte an ein europäisches Wir-Gefühl nicht mehr appellieren. Dazu sind die kulturellen Prägungen der Türkei und Europas zu unterschiedlich. Die Unterschiede haben etwas mit Christentum und Islam zu tun ... Die europäische Idee wäre tot. Über die Folgen sollte man sich keine Illusionen machen. In einem Europa, das kein Gefühl seiner eigenen Identität hervorzubringen vermag, wird der Nationalismus wieder sein Haupt erheben. Der Nationalismus befriedigt Identitätsbedürfnisse. Aber er würde es auf eine Weise tun, die für Europa verheerend wäre ... Über das künftige Verhältnis zwischen der Türkei und Europa darf man nicht ohne Rücksicht auf die Geschichte und die Zukunft Europas entscheiden."

Und der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler befürchtet eine "mutwillige Selbstzerstörung" Europas. Rund 450 Jahre Kriege zwischen dem Osmanischen Reich und dem europäischen Abendland böten dafür genügend Gründe. Nach einem Beitritt von 90 Millionen Türken 2013, sagt der sozial-liberale Gelehrte, gäbe es in der EU mehr Muslime als Protestanten.

Doch Schröder und Fischer setzen sich über solche Einwände hinweg. Sie vertrauen vielmehr darauf, künftig noch erfolgreicher auf Stimmenfang gehen zu können. Denn von den 500000 Türken, die 2002 eingebürgert waren, stimmten bei der Bundestagswahl am 22. September 60 Prozent für Rot und 17 Prozent für Grün. "Der Kanzler verdankt seinen hauchdünnen Sieg nicht nur den Ossis, sondern auch den Zuwanderern aus Istanbul oder Anatolien - deren Bedeutung an Wahltagen noch wachsen wird", schlussfolgerte der "Spiegel". Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht der Hinweis auf Esaus Linsengericht.

Mehrheit der Deutschen hat gegen
EU-Beitritt der Türkei Vorbehalte

Mangelnde Achtung der Menschenrechte spielt große Rolle - Institut sieht noch großes Imageproblem - Land am Bosporus gilt als wenig fortschrittlich

Zunehmende Vorbehalte gegen einen EU-Beitritt der Türke bei einer Mehrheit der Deutschen haben die Wissenschaftler des Essener Zentrums für Türkeistudie festgestellt. "Die öffentliche Meinung hat sich in den letzten Monaten gedreht", sagte Dirk Halm am Freitag im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP. Auffällig sei die hohe Bedeutung, die von einer Mehrheit der Befragten dem Problem der Achtung der Menschenrechte beigemessen werde. Zwar gebe es grundsätzlich ein Zweidrittelmehrheit für die Türkei wenn nur nach dem EU-Beitritt gefragt werde, erläuterte Halm. Sobald aber die von der CDU ins Spiel gebrachte "privilegierte Partnerschaft' als Auswahlmöglichkeit in Umfrage angeführt werde, schrumpfe die Befürwortung des EU-Beitritts auf etwa zehn Prozent. "Die Leute sagen: Ja, dann lieber die privilegierte Partnerschaft", erklärte der Wissenschaftler. Die zunehmend negative Haltung in den Umfragen habe "sicher damit zu tun" dass die Debatte sehr verspätet eingesetzt hat und dann umso hektischer und überhasteter geführt wurde. Das ist sicher ein Grund, dass eher die schrillen Argumente in der Hektik durchdringen", erklärte Halm. Interessant sei aber die Gewichtung der Argumente, die aus einer eigenen Umfrage hervorgehe, die das Institut für Türkeistudien von rund drei Monaten veranstaltet habe.Nicht die Arbeits-Platzkonkurrenz habe im Vordergrund gestanden oder die Gefahr, dass Terrorismus einsickere. "Die am häufigsten vertretenen Gegenargumente waren tatsächlich: Die Türkei achtet die Menschenrechte nicht, ist keine Demokratie," Es sei erstaunlich" dass keineswegs Ängste oder Befindlichkeiten mit Blick auf die eigene Lebenssituation im Vordergrund gestandenhätten.

"Es kam ganz klar raus, dass die Türkei nach wie vor ein riesiges Imageproblem in Deutschland hat. Sie wird nach wie vor nicht als dynamische aufstrebende Wirtschaftsmacht im Mittleren Osten verstanden, sondern als wenig fortschrittliches, armes, entwicklungsschwaches Land. Das ist das Image, und daraus resultiert wohl das Unwohlsein", erklärte der Forscher. Dieser Eindruck werde durch einige politische Kräfte noch gezielt gefördert. Auch werde nicht gesehen, dass die Türkei große Unterschiede im eigenen Land aufweise. "Ich glaube, dass sich die meisten Deutschen kein realistisches Bild davon machen, dass Istanbul zum Beispiel schon eine moderne Metropole westlicher Prägung ist."

"Man sollte das jetzt nicht dramatisieren und von einer riesigen Ablehnungsfront ausgehen", schränkte Halm ein. "Bis jetzt kam mir die öffentliche Meinung deutlich differenzierter vor, als vielleicht einige politische Kräfte glauben möchten. Das sehen Sie ja auch an den 78 Prozent, die in einer anderen Umfrage nicht dafür sind, dass das Thema als doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Nur 23 000 Quadratkilometer davon liegen in Europa. Die größte Stadt des Landes, Istanbul, ist die einzige Stadt der Welt, die auf zwei Kontinenten - Europa und Asien - liegt.

Die zu fast 99 Prozent islamische Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Von den gut 73 Millionen Einwohnern sind rund 75 Prozent Türken. Die größte Minderheit bilden die etwa zwölf Millionen Kurden, von denen die meisten im Südosten des Landes leben. Daneben leben noch kleine Gruppen von Arabern sowie Tscherkessen und Georgiern in der Türkei. Die Türkei in ihrer heutigen Gestalt ist 1923 aus dem Friedensvertrag von Lausanne hervorgegangen. Das im Ersten Weltkrieg zerschlagene Osrnanische Reich wurde von den Alliierten aufgeteilt. In dem mehrheitlich türkisch besiedelten Kerngebiet gelang es Mustafa Kemal Pascha, den Widerstand gegen die Zerstückelung der Türkei zu organisieren und einen weltlichen Staat zu schaffen. Der letzte Sultan wurde 1922 von der Großen Nationalversammlung abgesetzt. Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik ausgerufen, deren erster Präsident Mustafa Kemal, der spätere Atatürk wurde. 1924 wurde auch das Kalifat abgeschafft. Die neue Türkei war ein Einparteienstaat mit der von Atatürk gegründeten Republikanischen Volkspartei an der Spitze. Atatürk blieb bis zu seinem Tode 1938 Präsident. Das Mehrparteiensystem wurde erst 1946 eingeführt. Das Militär, das sich als Hüter des kemalistischen Systems betrachtete, stürzte drei Mal 1960, 1971 und 1980 eine demokratisch gewählte Regierung. Die seit November 2002 amtierende islamisch geprägte Regierung von Erdogan ist westlich orientiert und hat den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU favorisiert. J.Sondermann, AP

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