Landshuter,Straubinger, 11.09.04 LEITARTIKEL

BILDUNGSMISERE

VON FRIDOLIN M. RÜB

"Allen Menschen ist es gegeben, sich selbst zu erkennen und klug zu sein", schrieb schon Heraklit und wies so der Erkenntnissuche einen Pfad. Und Immanuel postulierte, dass jedes menschliche Streben nach Wissen zur Frage "Was ist der Mensch?" führt, in der auch die anderen drei Grundfragen "Was kann ich wissen?", "Was soll ich tun?", "Was darf ich hoffen?" eingebündelt sind.

Wenn sich das in unserer schönen neuen Internet-Welt wie ein gruftiges Echo aus vergangenen Zeiten anhört, so liegt das am nur noch selektiven Wahmehmungsvermögen einer Gesellschaft, die durch die Kollision von Fernsehen und einer desaströsen Schulpolitik nicht nur die Allgemeinbildung, sondern auch noch die Kultur der Anstrengung verloren hat.

Wohl kaum ein Thema regt die Politiker jeglicher Couleur so zur Heuchelei an wie das Thema Bildung. In fein ziselierten Worten wird bei feierlichen Anlässen der Wert der Bildung gepriesen. Der Quell der Bildungslyrik ist schier unerschöpflich. Doch trotz aller Ergüsse zeigt sich wenig Grün in der deutschen Bildungswüste.

Daran werden auch trotz aller kultusministerieller Verheißungen die Neuerungen nicht viel ändern, die nun mit Beginn des neuen Schuljahres am kommenden Dienstag wirksam werden. In der Grundschule gibt es für die ersten beiden Klassen neue Zeugnisse. Sie sollen für die Eltern ausführlicher und informativer werden. Und für Bayerns Gymnasiasten beginnt mit der Einführung des G 8 der Ernstfall: Mit der Verkürzung auf acht Jahre kommt auf sie die größte Veränderung seit der Reform der Oberstufe in den siebziger Jahren zu. "Das achtjährige Gymnasium wird ein Erfolgsmodell", ist sich Kultusministerin Monika Hohlmeier sicher. Ihr Wort in Gottes Ohr! Denn die Südländer Bayern und Baden-Württemberg lassen mit ihren Gymnasien zwar den Rest der Republik hinter sich, doch im internationalen Vergleich sind sie keineswegs in der Spitze zu finden.

Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Der Weg in unsere Bildungswüste führt über kultusbürokratische Neuerungen: Verdammung und (später Einsicht folgend) Wiederkehr der Kopfnoten, Mengenlehre mit Trara eingeführt und dritter Klasse beerdigt... Nahezu jedes Jahr wurde eine neue curriculare Sau durch die pädagogische Landschaft getrieben. Der dabei angerichtete gewaltige Flurschaden ist bei PISA zu besichtigen.

Als im vergangenen Jahr das neue Teilnehmerland Hongkong auf Anhieb den dritten Platz belegte, rutschte Deutschland in der PISA-Nachkontrolle auf den 22. Platz ab. Ist das Volk der Dichter und Denker dabei, zu einem Volk der praktizierenden Analphabeten zu werden? Die Pessimisten sagen ja. Die Fakten geben ihnen leider Recht: Drei Millionen Bundesbürger, Tendenz steigend, können überhaupt nicht beziehungsweise kaum lesen und schreiben.

Zurück zu PISA. Der deprimierendste Passus darin ist der über die Grundschulen: Urteil mangelhaft. Eine Reform ist überfällig, denn 15 Prozent der Schüler verlassen die Schulen, ohne richtig lesen, schreiben und rechnen zu können. Lehrstellen bleiben unbesetzt, weil die Bewerber diese Basisfähigkeiten nicht beherrschen.

Konservative Bildungspolitiker hatten schon immer gegen die "Kuschelpädagogik" für die Kleinen Front gemacht - und wurden dafür als Reaktionäre diffamiert. Doch nach PISA wächst die Zahl derer wieder, die in der Unterforderung in den ersten Schuljahren die Ursache sehen für das schlechte Abschneiden unserer Schüler. Fazit:Die Kinder müssen in den ersten Schuljahren stärker gefördert und gefordert werden. Endgültig Abschied zu nehmen gilt es vor allem von der unseligen Ankreuz- und Einfüg-Masche. So züchtet man sekundären Analphabetismus. Es muss wieder viel mehr schriftliche Arbeiten geben. Denn nur bei der Umformung von mündlicher in die schriftliche Kommunikation wird sichtbar, was bei der Umwandlung gleich bleibt: der Sinn. Nur Schrift macht Sinn kontrollierbar!

Ähnliches gilt für das Lesen. Kinder, die nicht zum Lesen angehalten werden, haben später Mühe, einen geraden Satz zu schreiben. Im Mittelpunkt sollte also jene Fähigkeit stehen, die den Schlüssel zum Lernen und zum Leben bietet: die Lesefähigkeit. Gemeint ist damit ein Begreifen des Textes, seine einzelnen Aussagen, deren Absichten durch die Struktur- und Wortwahl, um ihn dann auch in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können. Lesefähigkeit ist der Schlüssel für alle Fächer. Nur wer die Fragestellung einer Mathe-Arbeit begreift, wird sie lösen können. Immer mehr Kinder geben zu, dass sie im Internet einfachste Texte nicht begreifen. Folge: Sie surfen aber auf der geistigen Talsohle.

Sorgen sollte den Deutschen indes die - angesichts der von Grünen und SPD-Linken betriebenen Verteufelung nicht verwunderlichen - Naturwissenschaftsfeindlichkeit der Studenten machen. In Deutschland kommen auf 100 000 Beschäftigte nur 1040 Graduierte der Fächer Mathematik, Informatik, Bio- und Naturwissenschaften, in Frankreich, Irland, Japan und Korea von 2 200 bis zu 5 200.

Was die deutschen Schulpolitiker mit dem Zurückdrängen fundamentaler Kulturpraktiken wie Lesen, Schreiben und Kopfrechnen für einen Schaden angerichtet haben, zeigt die Tatsache, dass ein Drittel der Studenten außer Stande ist, einen halbwegs verständlichen Text zu verfassen, "ohne im Garten des Sinns Verwüstungen zu hinterlassen". Die Frage, was Allgemeinbildung im Informations-Zeitalter noch nütze, dürfte damit beantwortet sein.

In der 300 Seiten umfassenden PISA-Studie wird dies alles bestätigt. Und - wichtiger noch - es wird darin die Schlüsselrolle der Eltern für den Schulerfolg betont: "Die Zeit, die Eltern zum ruhigen Gespräch mit ihren Kindern über kulturelle Themen aufbringen, steht in eindeutigem Zusammenhang zu Lernleistung und Lesefähigkeit." Entscheidend sei vor allem die vorbildhafte Einstellung der Eltern zum Lesen, heißt es in der Studie weiter. "Fünfzehn Jahre alte Schüler, deren Eltern eine niedrige berufliche Stellung haben, aber engagiert lesen, schneiden besser ab als Schüler, deren Eltern eine hohe oder mittlere Bildung besitzen, aber selbst wenig lesen." Schüler, die wenig lesen, würden den Lesestoff oft als zu schwierig empfinden und daher eine negative Einstellung zum Lesen entwickeln. Sie gerieten damit schnell vom seltenen Lesen zu einem Rückstand in allen Fächern.

Dieses Land ist möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr in der Lage, elementare zivilisatorische Standards aufrechtzuerhalten - dann nämlich, wenn die PISA-evaluierten 15-Jährigen als Erwachsene in unserer Gesellschaft tonangebend geworden sind. Das ist der eigentliche Bildungs-Skandal. Wir müssen zurückkehren zur Bejahung des Begabungs- und Leistungsprinzips.

Die Politik müsse sich fragen, schrieb Josef Kraus in seinem 1998 erschienenen Buch "Spaßpädagogik" ob sie mit "hyperaktiver Innovationsrhetorik und mit fortschreitender Liberalisierung in der Schule nicht den falschen Weg eingeschlagen habe".

 zurück