Straubinger, 3.September 2005
LEITARTIKEL

DIE MEHRHEIT JUBELT NICHT
VON FRIDOLIN M. RÜB

"CDU-Parteitag bejubelt Angela Merkel, Ovationen für Gerhard Schröder, stürmischer Beifall für Edmund Stoiber..." So oder so ähnlich lauteten die Titel der Berichte über die diversen Wahlparteitage. Jubel allerorten also. Hier die Schwarzen und die Liberalen, da die Roten und die Grünen. Der mündige Bürger hat nun die Wahl. Und, gewissenhaft wie er nun mal ist, macht er von seinem Wahlrecht Gebrauch in dieser besten aller demokratischen Welten.

Schön wär's, wenn's so wäre. Doch dem ist mitnichten so. Zur stärksten Partei droht nämlich in diesem unseren Lande die der Nichtwähler zu avancieren. Politikverdrossenheit zu äußern, gilt nicht mehr nur am Biertisch als schick. Noch schlimmer indes ist, daß angesichts von Firmenpleiten, Massenarbeitslosigkeit und Hartz IV das Vertrauen in unsere Staatsform und in die Soziale Marktwirtschaft schwindet.

Nach einer am Mittwoch veröffentlichten Allensbach-Umfrage haben nur noch 31 Prozent der Bürger eine gute Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft, 39 Prozent dagegen eine schlechte. Und im Osten ist - 15 Jahre nach der Wiedervereinigung - die Unzufriedenheit mit dem politischen System in der Bundesrepublik besonders ausgeprägt. So äußerten sich bei einer Forsa-Erhebung mehr als 43 Prozent der befragten Ossis kritisch über die freiheitlich-demokratische Verfasstheit der Bundesrepublik. Und sogar fast drei Viertel bewerteten negativ, wie dieses System in der Praxis funktioniert. Zwölf Prozent votierten gar für den Wiederaufbau der Mauer. Da verwundert es nicht, daß 31 Prozent der Befragten im Osten ihre Interessen am ehesten von der SED-Erbin Linkspartei vertreten sehen. Paradoxerweise gab aber die Hälfte der Befragten an, daß es ihnen heute besser gehe als vor der Wende.

Vielen Bundesbürgern fehlt vor allem das Soziale an der Marktwirtschaft. Die Hälfte der Befragten hält sie nicht für wirklich sozial, nur jeder Dritte schreibt ihr diese positive Eigenschaft zu. Dagegen denkt mehr als die Hälfte der Deutschen, daß Großunternehmen, Banken und reiche Leute die wahren Nutznießer seien.

Wie groß der Vertrauensverlust ist, zeigt ein Blick zurück. Vor fünf Jahren, im Sommer 2000, zeichneten noch 46 Prozent ein freundliches Bild der Sozialen Marktwirtschaft, und lediglich 18 Prozent bewerteten sie negativ. Die desaströse Staatsverschuldung, ein kaum nennenswertes Wirtschaftswachstum, Massenarbeitslosigkeit und klamme Sozial Sozialsysteme - die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Regierungsarbeit könnte kaum trostloser sein. Solche Fehlentwicklungen sind korrigierbar. Ungleich größer und sich nachhaltig auswirkend dürfte dagegen der Schaden sein, der im Gefolge durch die Erschütterung des Vertrauens in das Funktionieren unserer Gesellschaftsordnung angerichtet wurde.

Doch alle Schuld auf Rot-Grün abwälzen zu wollen, wäre nicht nur unfair, sondern falsch. Die Fehlleistungen dieser Regierung haben nämlich nur eine latent manifeste Entwicklung schneller sichtbar werden lassen. So hat der in London lebende Soziologe Lord Ralf Dahrendorf schon vor Jahren ein düsteres Bild von der Zukunft der parlamentarischen Demokratie gezeichnet. Der - heute 76-jährige - einstige Hoffnungsträger der FDP glaubt zwar nach wie vor "an die lebendige Kraft der repräsentativen Demokratie", er bezweifelt aber, ob die Parlamente "ihre klassische Funktion, Veränderungen ohne Gewalt zu ermöglichen", noch wahrzunehmen im Stande sind. Von zwei Seiten droht laut Dahrendorf, der seit 13 Jahren im britischen Oberhaus sitzt, dem Parlamentarismus Gefahr: Durch die Popularisierung und die Internationalisierung der Politik.

Daß die weltweit operierenden multinationalen Konzerne und Großbanken, deren Bilanzsummen oft genug höher sind als die Etats selbst mittelgroßer Staaten, ungerührt ein ethikfreies, nur auf Gewinnmaximierung ausgerichtetes Eigenleben führen, ist sattsam bekannt. Ob Demokratie oder Diktatur, wenn der Profit stimmt, ist das - wie die Geschichte lehrt für die Herren in den Vorstandsetagen Jacke wie Hose. So gesehen, ist das Kapital apolitisch. Was aber nicht heißen soll, daß so viel Wirtschaftsmacht ungefährlich sei. Das Gegenteil ist der Fall!

Doch mit. der Kritik an der zunehmenden Internationalisierung der Politik als einer Gefahr für die Demokratie ist eigentlich etwas anderes gemeint, nämlich die Abtretung von Machtbefugnissen an Institutionen wie die Kommissionen der EU. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, der von der Regulierungswut der Eurokraten in Brüssel verschont bliebe. Obwohl selber ohne jedwede demokratische Legitimation, haben sie das Recht, Entscheidungen frei gewählter Parlamente und Regierungen zu verwerfen. Für EU-Beitrittskandidaten gelten strenge Maßstäbe. An diesen gemessen, müßte die EU, würde sie sich um eine Aufnahme in die EU bewerben, als unzulänglich demokratisch zurückgewiesen werden. Ein "Europa der Bürger", wie Außenminister Joschka Fischer es in Sonntagsreden gern zeichnet, ist unter solchen Vorzeichen nicht einmal als Utopie auszumachen.

Nicht ganz so schlimm ist es um die nationalen Westminster-Demokratien bestellt. Noch funktionieren die Mechanismen halbwegs leidlich. Doch die Gefahren, die ihr durch die "Popularisierung der Politik" drohen, dürfen nicht länger bagatellisiert werden. Immer häufiger versuchen die Regierungen, am Parlament vorbei auf angebliche "Volksmeinungen" einzugehen, melden Handlungsbedarf an und verkünden Maßnahmenkataloge.

Umfragen oder Proteste lautstarker Gruppen werden von den Regierungen ernster genommen als Debatten im Parlament. Die wiederum geraten - weil mit Blick auf den "Großen Bruder" Fernsehen gehalten - zu wohlfeilen Seicht Reden für die TV-Galerie. So entsteht eine Art "Situationspolitik" ohne Dauer, nur so lange gültig, bis die Lage sich wieder geändert hat, bis, wie es im Volksmund heißt, wieder eine neue Sau durch das Dorf getrieben wird. So wird der Begriff "Nachhaltigkeit" für die Politiker zu einem Fremdwort. Dahrendorf: "Regierungen gefällt es, direkt vor das Volk zu treten. Manchmal bin ich geneigt, von Wegwerfpolitik zu reden. Regierungen, die populär sein wollen, versagen vor ihren Aufgaben."

Die wie eine Pest grassierende "Popularisierung der Politik" macht auch vor den Parteien nicht Halt - zu deren Schaden und damit zum Schaden der Demokratie. Überrollt von der ständig steigenden Informationsflut, den vermeintlich wichtigen Problemen mit der immer kürzer werdenden Halbwertzeit, den zu veritablen Krisen hochstilisierten Pannen und dem multimedial präsentierten Aktionismus der Politiker, ziehen sich immer mehr Bürger zurück, wollen von der Politik, die sie als bloßes Theater gründlich mißverstehen, nichts mehr wissen. Das Treiben der Akteure auf der Polit-Bühne, die Häme, mit der sie sich überziehen, sind nur von begrenztem Unterhaltungswert. Die Popularisierung der Politik fordert ihren Tribut. Bezahlt wird mit Demontage der Demokratie. Die Mehrheit jubelt nicht.

zurück