Landshuter,Straubinger,4.September 2004

GASTKOMMENTAR

ÜBERFORDERTER SOUVERÄNVON ROSWIN FINKENZELLER

Zu den fürchterlichen, aber irgendwie einleuchtenden Übertreibungen gehört der Merksatz, in Volksentscheiden vollende sich die Demokratie. Die Möglichkeit zu solcher Perfektion hat Bayern, nicht aber Deutschland. Warum, so wird alle Jahre wieder gefragt, muss der gesamtdeutsche Souverän, eben das Volk, sich bei der ihm verfassungsmäßig zustehenden Herrschaftsausübung auf die Wahl seiner Repräsentanten beschränken? Wieso darf er sich nicht einmischen, kurzerhand und unmittelbar?

Die erste Antwort wäre, dass diesem Souverän, wie er nun einmal ist, nach solchen Aktivitäten in der Regel gar nicht der Sinn steht. Schließlich ist er kein Schweizer. Bei uns hängt der Schrei nach dem Volksentscheid immer mit einer gelegentlichen Aufwallung zusammen, was dem Traum von der direkten Demokratie einen seltsam punktuellen Charakter verleiht. Der plebiszitäre Antrieb ist nicht der Gestaltungswille, sondern die Unzufriedenheit.

Da die Parteien das wissen, schieben sie die Einführung der direkten Demokratie auf die lange Bank, erweisen jedoch der ohnehin lauen Sehnsucht nach Einflussnahme hin und wieder ihre Reverenz. Der Vorschlag, dem deutschen Volk zur Billigung die Europäische Verfassung vorzulegen, ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil schwerlich ein Streitgegenstand zu finden wäre, bei dem die Misslichkeiten des Plebiszits klarer zutage träten als bei diesem. Das beginnt schon mit der Tatsache, dass ein derartiges Edelthema den Leuten gar nicht auf den Nägeln brennt.

Hartz IV wäre da viel interessanter. Hartz IV böte sich auch insofern an, als die tonangebenden Politiker vorgeben, von zweierlei überzeugt zu sein: Erstens von der Unausweichlichkeit eben dieser Sozialsystemreform und zweitens von der Intelligenz des breiten Publikums. Müssten da logischerweise die Wähler für die Reform nicht Feuer und Flamme sein?

Die Wahrheit ist, dass die Politik dem Souverän nicht über den Weg traut. Die Einsichtsfähigkeit der breiten Masse war von allen verfassungsrechtlichen Aspekten schon immer der kitzligste. Die Weisheit des Souveräns scheint eine notwendige Fiktion zu sein, der die Wahlkämpfer, diese Schmeichler, aufs Bereitwilligste rhetorischen Tribut zollen. Hätten die Politiker von den Adressaten ihrer Botschaft wirklich eine entsprechend hohe Meinung, redeten und hämmerten sie nicht auf jeden ein, der ihnen in den Wochen vor dem Urnengang in die Arme läuft. Und vor einem Volksentscheid über die Europäische Verfassung würden sie folgende Groteske als Selbstverständlichkeit voraussetzen. Der typische Deutsche erwirbt im Buchhandel den Verfassungstext und liest ihn peinlich genau. Es ficht ihn nicht an, dass die Exemplare teuer, vielleicht sogar für ein paar Tage vergriffen sind. Es macht ihm nichts aus, dass der Text lang, zuweilen ermüdend und stellenweise erklärungsbedürftig ist. Nach beendeter Lektüre beginnt er zu sinnieren und sorgfältig abzuwägen, um eines Tages endlich zu wissen, ob er dafür oder dagegen sei.

Dass diese Karikatur nicht der Realität entspricht, bedarf keines Beweises, höchstens der Zusatzbemerkung, dass auch Bundestagsabgeordnete zögern werden, die Prosa Absatz für Absatz zur Kenntnis zu nehmen. Trotzdem sind sie in einer anderen, weil erheblich einfacheren Situation als das Musterknabenphantom aus dem Volk. Als Angehörige einer Fraktion können sie auf Parteifreund Fachmann verweisen, dessen Empfehlungen sie respektierten, wie auch er die ihrigen zu beherzigen pflegt. Von diesem System der Arbeitsteilung zu gegenseitigem Nutz und Frommen ist der gewöhnliche Volksentscheidteilnehmer ausgeschlossen, dem die Befürworter des Plebiszits, selbst wenn sie es gar nicht so wollen und meinen, die Kompetenz eines Übermenschen andichten.

Aber er soll doch, könnten diese Befürworter hier einwerfen, nur "ja" oder "nein" sagen. So ist es leider. Nirgends zeigt sich die sachliche Unangemessenheit von Volksentscheiden klarer als bei der Nötigung, pauschal zuzustimmen oder pauschal abzulehnen. "Ja" und "nein" sind unpolitische Vokabeln. Wer bei der Behandlung komplexen Themen seine Sinne beisammen hat, wird allenfalls zu einem "Ja, aber" bereit sein, wird auch eine Variante nicht schlechtweg verwerfen, sondern "Nein, es sei denn" sagen. Regierungs- und Parlamentsmitglieder müssen sich zwar auch irgendwann entscheiden, doch können sie vorher die von ihnen gewünschten Schattierungen und Nuancen erstreiten. Diese Möglichkeit hat der gewöhnliche Bürger nicht einmal theoretisch. Bei Licht besehen grenzt es an Majestätsbeleidigung, den Souverän vor eine derartige Alternative zu stellen. Die früheren Souveräne, die Monarchen, hätten es sich jedenfalls verbeten, mit barschen Worten wie diesen zu einem Urteil aufgefordert zu werden: "Fassen Sie sich extrem kurz: ja oder nein?"

Nun nehmen wir einmal an, es käme zum angedeuteten Volksentscheid und die Mehrheit der abstimmenden Deutschen entschlösse sich zu einem "Nein". Soll Deutschland dann aus der Europäischen Union austreten? Oder sollte sich der Geltungsbereich der Verfassung nicht mehr auf Deutschland erstrecken, auf die übrigen europäischen Länder aber schon? Oder sollte die Bundesregierung die anderen Kabinette dazu bewegen, einen völlig neuen Entwurf ausarbeiten zu lassen?

In diesem Fall würden besagte Kabinette sich anschließend in eisiger Freundlichkeit erkundigen müssen, welche der zahlreichen Passagen es denn Oberhaupt gewesen seien, die in Deutschland keine Akzeptanz gefunden hätten, und auf diese naheliegende Frage nicht einmal eine schwammige, geschweige denn eine präzise Antwort erhalten.

Das entscheidungsfrohe Volk schert sich also nicht um die Folgen, und das gezwungenermaßen. Damit aber begeht es einen der schwersten Fehler, die in der Politik, dieser ohnehin an Missgriffen reichen Kunst, Oberhaupt begangen werden können. Regierungschefs können wenigstens im Hinterkopf haben, wozu sie ihre Zuflucht nehmen, wenn der Kurs nicht einzuhalten ist. Parlamente können in absehbarer Zeit selbst allerjüngste Paragraphen verschärfen, mildern oder präzisieren, wie denn in der Bundespolitik ein Änderungsgesetz das andere jagt. Das Volk aber hat gesprochen und damit basta. Grundsätzlich mag es möglich sein, ihm drei Monate später eine Anschlussfrage zu stellen, doch wird es auch auf diese nur mit auslegungsbedürftiger Einsilbigkeit antworten. Soll die Bundespolitik ein plebiszitäres Element erhalten? Nein. Es sei denn, zur Abstimmung gelangten nur essentielles für jedermann einsichtige und simplen Lösungen zugängliche Probleme. Es sei denn, mit dem Volksentscheid wäre die Angelegenheit erledigt. Schwierigkeiten von solcher Einfachheit sind jedoch weniger in der großen Politik zu finden als in den Regionen und im Privatleben.

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