Landshuter,Sraubinger,5.Oktober2004

EU-Auflagen für Türkei bei Zuwanderung
Verheugen: Schutzklausel für Mitgliedstaaten –Glos warnt vor Beitrittsautomatismus

Berlin/Brüssel. (AP/dpa) Arbeitskräfte aus der Türkei sollen bei einem möglichen EU-Beitritt des Landes nur unter scharfen Auflagen Zugang zu den heutigen Mitgliedstaaten bekommen. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen sagte am Montag im ZDF, sein Türkei-Bericht werde eine dauerhafte Schutzklausel enthalten. Danach soll es für die EU-Staaten möglich sein", Zuwanderung aus der Türkei jederzeit zu regulieren und zu begrenzen". Zugleich bestritt Verheugen, dass die Kosten für eine Aufnahme des Landes aus dem Ruder laufen könnten.

"Ein Beitritt der Türkei würde kein Euro mehr kosten, als die Mitgliedsländer tatsächlich dafür aufbringen können und wollen", sagte Verheugen. Die Kosten auf Basis des Vertrags zu kalkulieren, mit dem etwa Estland in die EU aufgenommen worden sei, sei nicht seriös. Für die Türkei gälten ganz andere Voraussetzungen. EU-Haushaltskommissarin Michaele Schreyer sagte der "Berliner Zeitung", die Kosten würden "zehn bis 15 Milliarden Euro pro Jahr" nicht übersteigen.

Berichte, nach denen er am Mittwoch Beitrittsverhandlungen mit dem Land empfehlen werde, wollte Verheugen "weder bestätigen noch dementieren". Er betonte aber: "Wenn wir Verhandlungen aufnehmen sollten, müssen wir das natürlich mit dem Willen tun, sie zum Erfolg zu führen." Es könne nicht sein, "dass man Verhandlungen beginnt, und hat im Hinterkopf die Idee, dass man sie scheitern lassen will". Es gebe aber" keine Garantie" dafür, dass die Gespräche tatsächlich erfolgreich abgeschlossen würden.

In diesem Zusammenhang hat sich der türkische Außenminister Abdullah Gül entschieden dagegen gewandt, der Türkei für den EU-Beitrittsprozess "Sonderbedingungen" aufzuerlegen. "Es gibt bestehende Regeln, es gibt frühere Vereinbarungen. Es gibt einige Sachen, die für alle Mitglieder verbindlich sind. Alles bewegt sich innerhalb dieses Rahmens. Besondere Bedingungen für die Türkei kommen nicht in Frage."

Indes hat der CSU-Landesgruppenvorsitzende im Bundestag, Michael Glos, Kanzler Gerhard Schröder vor einer Automatik auf dem Weg der Türkei in die EU gewarnt. "Bundeskanzler Schröder darf sich nicht weiter über die Meinung der großen Mehrheit der Deutschen hinwegsetzen. Der Beitrittsautomatismus muss endlich gestoppt werden." Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel warb erneut für ihr Konzept einer "privilegierten Partnerschaft" für die Türkei.

Der CSU-Arbeitsmarktexperte Johannes Singhammer vertrat die Auffassung, dass in Deutschland ein "fürchterlicher Zangengriff auf Arbeitsplätze" drohe, weil die Bundesrepublik bei einem Beitritt mehr Transferleistungen bezahlen müsste und Billiglohn-Konkurrenz bekäme. "Weder in fünf noch in zehn Jahren verträgt der deutsche Arbeitsmarkt nach der EU-Osterweiterung zusätzliche Billigarbeitskräfte", hieß es.

FDP-Vorsitzender Guido Westerwelle bekräftigte das Nein seiner Partei. "Derzeit ist die Türkei weder ökonomisch noch rechtsstaatlich beitrittsfähig und die EU mit diesen Strukturen nicht aufnahmefähig."

8.Oktober2004
CDU fordert die EU-Chefs

zum "Nachjustieren" auf

Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sollen ergebnisoffen bleiben

Angela Merkels Appell an die Parteifreunde in der EU ist bislang ungehört verhallt. Trotz der brieflichen Initiative der CDU-Chefin gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei hat die EU-Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen. Jetzt sucht die CDU, die für eine "privilegierte Partnerschaft" plädiert, ihr Heil im Kleingedruckten - und hofft auf den entscheidenden Gipfel im Dezember. "Ein Nachjustieren durch "die Regierungschefs ist dringend geboten", sagt der CDU-Abgeordnete Matthias Wissmann am Donnerstag.

Nach Lektüre der Empfehlung klammert sich Wissmann, der Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Europa-Angelegenheiten ist, an die Formulierung "ergebnisoffen". Sie bedeute, dass es neben der Alternative einer EU-Vollmitgliedschaft für die Türkei und dem Abbruch der Verhandlungen noch andere Wege geben könne, darunter etwa eine privilegierte Partnerschaft, meint er.

Auch der Europaabgeordnete Elmar Brok liest aus dem Kommissionsbericht keinen Beitrittsautomatismus heraus. Allein die Tatsache, dass die Kommission in Erwägung ziehe, die Freizügigkeit für türkische Bürger nach Beitritt zur Europäischen Union dauerhaft zu beschränken, bedeute keine echte Vollmitgliedschaft. "Das ist eindeutig die Benennung verschiedener Optionen", sagt Brok und fügt hinzu: "Wir meinen, dass man das deutlich ins Verhandlungsmandat schreiben soll".Welche Verbündeten die CDU im Kreis der Staats- und Regierungschefs für ihren Änderungswunsch gewinnen will, bleibt unklar. Die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen muss beim Gipfel am 17. Dezember einstimmig fallen. Bei einem Treffen der Europäischen Volkspartei am 4. November in Brüssel will Merkel noch einmal für ihr Anliegen werben. Aber selbst der französische Staatschef Jacques Chirac hat sich für die Verhandlungen ausgesprochen - entgegen der Stimmung in seiner eigenen Partei. Und der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, kein Freund eines Türkei-Beitritts, wird sich nach allgemeiner Einschätzung nicht aus der Deckung wagen.

Immerhin könnte Chirac nach Meinung von Brok eine Verzögerung des Verhandlungsbeginns erwirken. Da die französische Öffentlichkeit eine Mitgliedschaft der Türkei skeptisch sehe, stehe zu befürchten, dass die Verhandlungen das Referendum über die EU-Verfassung überschatten könnten.

Sollte es der CDU nicht gelingen, das Verhandlungsmandat zu verändern, tröstet sie sich vorläufig damit, dass ein Beitritt der Türkei in weiter Ferne liegt. Erst nach Ablauf der kommenden finanziellen Vorausschau der Europäischen Union, also 2014, könnten die Verhandlungen über das finanzpolitische Kapitel beginnen, habe die Kommission selbst eingeräumt. Und vorher würden in der Europäischen Union Verteilungskämpfe ausbrechen, sagt Wissmann voraus. Polen etwa könne kein Interesse daran haben, dann für die Türkei seinen Löwenanteil an den Agrarsubventionen abzugeben.

Im Zusammenhang mit der "Schicksalsfrage" einer EU-Mitgliedschaft der Türkei sieht der CDU-Politiker Brok auch noch anderes Ungemach auf die Europäische Union zukommen. So könne sie letztlich auch zur Ukraine nicht "nein" sagen, wenn sie die gleichen Kriterien erfülle wie die Türkei. Wachse die EU aber in die Breite und werde die Vertiefung vernachlässigt, könnten die Gründungsmitglieder sich zu einem Alleingang bei der weiteren Integration ermutigt fühlen.
Claudia K e m m e r, AP

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