Straubinger, 8.Dez 2004

Bulmahn gegen frühe Auslese der Schüler
Ministerin will dreigliedriges Schulsystem abschaffen –
Chancenungleichheit ein "Armutszeugnis"

Berlin. (AP/dpa) Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn hat die jüngsten PISA-Ergebnisse als nicht zufriedenstellend kritisiert und eine Reformdebatte ohne Tabus gefordert. Die anhaltende Vernachlässigung schwächerer Schüler nannte die Ministerin am Dienstag in Berlin ein Armutszeugnis: Experten kritisierten vor allem die große Abhängigkeit der Bildungschancen in Deutschland von der sozialen Herkunft.

Bulmahn zeigte sich überzeugt, dass mittel- und langfristig das dreigliedrige Schulsystem überwunden werden müsse. "Wir müssen uns fragen, ob die frühe Auslese von zehnjährigen Kindern nach der vierten Klasse der richtige Weg ist", sagte sie. Die Kinder müssten länger in einer Gemeinschaft lernen. Die Kultusministerkonferenz hatte zuvor einen Zusammenhang zwischen dem Schulsystem und schlechten Gesamtleistungen verneint.

In keinem anderen Land sei die Streuung der Leistungen so groß wie in Deutschland, kritisierte Bulmahn. Es sei eines der bedrückendsten Ergebnisse der Studie, dass es keine Verbesserung der Leistungen bei Schülern in Hauptschulen gegeben habe. Die sehr viel schlechteren Chancen für Kinder aus unteren Einkommensschichten "sind für ein Land wie Deutschland beschämend".

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warnte vor "Panikmache und Einfachrezepten" nach der PISA-Studie. Es führe nicht weiter, wenn abwechselnd die Gesamtschulen, das gegliederte Schulsystem oder die Kultusministerkonferenz zum Sündenbock gemacht würden, sagte er.

Handwerkspräsident Dieter Philipp sprach sich für mehr individuelle Beratung und Förderung der einzelnen Schüler aus. Zudem müsse der Bezug auf die Arbeits- und Berfswelt in der Schule verstärkt werden.

Kritik an der Kultusministerkonferenz kam von Seiten der Gewerkschaften. "Offenbar geben sich die Kultusminister mit der zweiten Liga zufrieden", sagte die GEW-Schulexpertin Marianne Demmer. Es helfe Lehrern, Eltern und Schülern nicht weiter, wenn nach den erneut schlechten Ergebnissen Verbesserungen im deutschen Schulsystem erst in zehn Jahren richtig greifen würden.

Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA-Studie hat auch in Bayern eine Debatte über das Für und Wider von Gesamtschulen ausgelöst. Staatsregierung und Philologenverband verteidigen das gegliederte Schulsystem, während die Kritiker die frühe soziale Auslese in den bayerischen Schulen beklagen. Die bayerischen Ausländerbeiräte kritisierten am Dienstag, dass Kinder von Einwanderern besonders stark benachteiligt würden.

Derweil wurde an der Berliner Humboldt-Universität ein Institut zur Qualitätssicherung im Bildungswesen eingerichtet. Die Einrichtung wird vollständig von den Ländern finanziert. Institutsdirektor Olaf Köller sieht seine Aufgabe; vor allem in der Überprüfung allgemein gültiger Bildungsstandards als Beitrag zur Vergleichbarkeit der Lernergebnisse. Damit sollen Schulen in die Lage versetzt werden, sich selbst über das Erreichte im Unterricht zu vergewissern.

 

Müntefering: Hochschule weiter schwieriges Thema

Potsdam. (dpa) Die Föderalismusreform wird nach Ansicht des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering nicht an einzelnen Streitpunkten scheitern. Zu den schwierigsten Themen zählten Hochschul- und Umweltpolitik, mit Abstrichen auch die innere Sicherheit, sagte Müntefering am Dienstag in Potsdam. Am 17. Dezember werde die Föderalismuskommission von Bund und Ländern wie geplant das Konzept beschließen. Ungeklärtes müsse vernünftigerweise abgetrennt werden. Die Kommissionsvorsitzenden, Müntefering und CSU-Chef Edmund Stoiber, verhandeln am Sonntag erneut.

Am Montag habe er lange mit Stoiber gesprochen, sagte Müntefering. Details wollte er nicht nennen.

Finnland schwört auf die Gesamtschule

Kann der PISA-Weltmeister Deutschland als Vorbild dienen? – Gleiche Chancen für alle

Finnlands Erziehungsministerin Tuula Haatainen hält. die völlig einheitliche Gesamtschule bis nach der neunten Klasse für den ausschlaggebenden Faktor bei den neuen PISA-Spitzenplätzen ihres Landes. "Unser Erfolg bei PISA stärkt die allgemein verbreitete Überzeugung in Finnland noch, dass die Gesamtschule genau das Richtige ist." Im Gegensatz dazu setzt Deutschland - noch - auf das gegliederte Schulsystem. Darüber ist nach PISA jedoch eine heiße Diskussion entbrannt. Die 1960 geborene Sozialdemokratin Haatainen hat selbst noch nach der vierten Klasse eine Aufnahmeprüfung für das Gymnasium absolviert. Heute vollzieht sich dieser Wechsel erst nach neun Schuljahren und ohne Aufnahmeprüfung. 56 Prozent aller Grundschüler machen auf der Basis ihrer generellen schulischen Leistungen bis zum Abitur weiter.

Für Haatainen ist dieses System eine weitere wichtige Voraussetzung für die finnischen PISA "Weltmeistertitel": "Würden wir wie früher durch Aufnahmeprüfungen und sehr früh auswählen, ginge uns unglaublich viel Kompetenz von Schülern verloren." Mit zehn Jahren spielten familiäre Herkunft und soziale Prägung beim Schulverhalten von Kindern noch eine sehr große Rolle.

Finnische Bildungspolitiker aller politischen Richtungen heben auch die Bedeutung staatlicher Leistungen wie die tägliche kostenlose warme Schulmahlzeit und Lernmittelfreiheit hervor. Bis hin zu Zuschüssen beim Schultransport soll Chancengleichheit für alle hergestellt werden. Trotzdem gilt das System nicht als teuer. "Finnland gibt nicht mehr Mittel aus als im OECD-Durchschnitt", sagt Haatainen.

Die Aufmerksamkeit der Schulministerin gilt weniger der Förderung von Spitzenbegabungen als den "Drop Outs", die sich mit schwachen Leistungen durch die Gesamtschule hangeln und ohne Abi oder alternativen Fachschulabschluss auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen haben: "Hier müssen wir attraktivere Bildungsgänge schaffen und den Betroffenen auch bessere medizinische und psychologische Hilfe anbieten." Bei der staatlichen Erziehungsbehörde im Hafengelände von Helsinki kann man sich nun wieder auf "PISA-Pilgerfahrten" vom anderen Ende der Ostsee einstellen. Als die Finnen 2001 bei der ersten PISA-Vergleichsstudie ebenfalls ganz vorn lagen, musste der inzwischen pensionierte Amtschef Jukka Sarjala viel Zeit für deutsche Besucher von Kultusministern bis zu örtlichen Elterninitiativen abzweigen. Alle wollten hinter das Geheimnis der PISA-Erfolge im Land der Nokia-Handys kommen. "Mit den Deutschen fühlte ich mich wieder wie in den sechziger Jahren, als ich über die Dörfer zog und misstrauisehe Finnen von der Gesamtschule überzeugen wollte", erinnert sich Sarjala. ThomasBorchert,dpa

Kraus: "Gesamtschule ist keine Lösung"

Straubing/Landshut. (stu) Kritisch hat sich der Deutsche Lehrerverband bezüglich der PISA-Studie jetzt auch zu den Ergebnissen der Gesamtschule geäußert. Dieser in einigen Bundesländern praktizierte Schultyp konnte sich in der am Montag veröffentlichten Studie hinter Gymnasium und Realschule nur knapp vor der Hauptschule positionieren.

Der Präsident des Lehrerverbandes, Josef Kraus, überzieht deshalb die verschiedentlich auch Einheits- und Gemeinschaftsschule genannte Gesamtschule mit beißender Kritik. "Dass die Gesamtschule erneut so schlecht abschneidet, obwohl sie in den betreffenden Bundesländern luxuriös ausgestattet ist, sollte endlich jene verstummen lassen, die immer noch meinen, dass die Gesamtschule die Lösung aller deutschen Bildungsprobleme ist."

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