Straubinger, 9.Dez 2004
Streit um mögliches Aus für die Hauptschule
Wirtschaft und Lehrer gegen Bulmahn-Vorstoß – Widerstand kommt auch von der CSU

Berlin. (AP/dpa) Die von Bildungsministerin Edelgard Bulmahn aufgestellte Forderung nach Abschaffung der Hauptschule ist bei Wirtschafts- und Lehrerverbänden auf deutlichen Widerstand gestoßen. Der Ruf nach Abschaffung führe am Thema vorbei, sagte DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun am Mittwoch. Auch der Lehrerverband sprach sich für das dreigliedrige Schulsystem aus.

Bei der internationalen PISA-Studie mit Schwerpunkt Mathematik war Deutschland nur Mittelmaß. Im Lesen lagen die 15-Jährigen sogar unter dem OECD-Durchschnitt. Vor allen an den Hauptschulen wurden keine Leistungsverbesserungen erreicht. Außerdem bescheinigte die Studie Deutschland eine große Abhängigkeit der Bildungschancen vom sozialen Hintergrund.

Braun sagte einer Zeitung, die Wirtschaft klage zwar über schlecht ausgebildete Schulabgänger. Die "altbekannte und ideologisch festgefahrene Schulstrukturdebatte" nähre "den Irrtum, damit würden die Probleme schwächerer Schüler gelöst".

Der Schlüssel liege vielmehr in der individuellen Förderung der Potenziale der einzelnen Kinder. Auch der Deutsche Lehrerverband sprach sich für den Erhalt des dreigliedrigen Schulsystems aus. Bulmahns Vorschlag liege "völlig daneben", sagte Verbandspräsident Josef Kraus in einem Interview. Kraus verwies auf innerdeutsche Vergleichsstudien, wonach Hauptschulen vor allem in Süddeutschland mehr leisteten. Davon profitierten die schlechtesten Schüler, vor allem auch die Kinder von Migranten. Als "Scheinlösung" bezeichnete auch der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Ludwig Eckinger, die Forderung nach Abschaffung der Hauptschulen. "Das System muss von Kopf auf die Füße gestellt werden", sagte er. Nötig sei der Ausbau der Kindergärten als Einstieg in das Bildungssystem. Bildungsministerin Bulmahn hatte sich am Dienstag gegen eine frühe Auslese der Schüler bereits nach der vierten Klasse gewandt und sich überzeugt gezeigt, dass mittel- und langfristig das dreigliedrige Schulsystem überwunden werden müsse. Auch der bayerische SPD-Landtagsfraktionschef Franz Maget plädierte am Mittwoch für eine Abschaffung der Hauptschule und sprach sich für eine Zusammenlegung mit der Realschule aus. Bayerns Schulministerin Monika Hohlmeier (CSU) wies die Forderung scharf zurück. Die SPD wolle die Ergebnisse von PISA für eine "Einheitsschul-Kampagne" nutzen. Hohlmeier betont die bayerische Hauptschule biete in ihrer derzeitigen Form exzellente Bildungschancen und eine ausgezeichnete Vorbereitung auf das Berufsleben: "Im M-Zug können besonders begabte Hauptschüler sogar den Mittleren Bildungsabschluss erwerben und bis zur Hochschulreife durchstarten. "

Der deutsche PISA-Koordinator Manfred Prenzel warnte vor einem überstürzten Umbau des Schulsystems. Zwar dürfe "man sich durchaus die Frage stellen, ob das System in seiner Grundstruktur verbessert werden kann", sagte Prenzel. Wer Veränderungen der Struktur anstrebe, müsse diese aber "langfristig planen und so konkretisieren, dass sie breite Akzeptanz finden können". Der internationale PISA-Koordinator Andreas Schleicher hält das dreigliedrige Schulsystem aus Haupt- und Realschule wie Bulmahn nicht mehr für zukunftsfähig.

Landshuter, 10.Dez 2004

Ladenhüter Gesamtschule
Von Josef Kraus

Die aktuelle deutsche Pisa-Diskussion scheint eine alte Bosheit zu bestätigen: Schulpolitische Debatte in Deutschland ist ein Friedhof, auf dem beständig Auferstehung gefeiert wird. So jedenfalls mutet mancher schlaue Ratschlag an, der im Zuge von PISA vor allem aus der roten, grünen, gewerkschaftlichen und pädagogisch besonders bewegten Ecke zur Reform des deutschen Schulwesens gemacht wird. Die Gesamt-, Einheits- und Gemeinschaftsschule solle gefälligst das bisherige gegliederte Schulsystem ersetzen, so tönt es - assistiert von einem selbsternannten OECD-Bildungsexperten - aus bestimmten Ecken.

Man vergegenwärtige sich: Gesamtschule in Deutschland konnte seit nunmehr drei Jahrzehnten in den Stadtstaaten, in NordrheinWestfalen, in Niedersachsen und in der DDR erprobt werden. Ihre Bilanz ist - gelinde ausgedruckt nicht gut. Es gibt keine einzige wissenschaftliche Studie, die dieser Gesamtschule auch nur in einem einzigen Bereich einen Gleichstand mit den Schulen des gegliederten Schulwesens, geschweige denn einen Vorsprung attestiert.

Vielmehr kommen sämtliche Untersuchungen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB), der Humboldt-Universität Berlin, der Ludwigs-Maximilians-Universität München und vieler weiterer renommierter Forschergruppen unisono zu einem Ergebnis: Gesamtschule in Deutschland liegt am Ende der 10. Klasse hinsichtlich Lernleistung und hinsichtlich sozialer Entwicklung ihrer Schüler drei Jahre hinter dem Gymnasium und zwei Jahre hinter der Realschule.

Beispiel:Die im Herbst 1998 aufgelegte sog. BIJU-Studie des MPIB

(Titel:Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter) attestiert der Gesamtschule in NRW diesen Rückstand sogar trotz vergleichbarer sozialer Provenienz der Schülerschaft. Auch die aktuelle PISA-Studie weist aus: Gesamtschule in Deutschland rangiert mit PISA-Werten bei 480 weit hinter dem Gymnasium (588 bis 606; der PISA-Sieger Finnland hat übrigens 544) und auch hinter der Realschule (501 bis 510). Diese Befunde sind deshalb so vernichtend, weil Gesamtschule etwa in Nordrhein-Westfalen und Hamburg finanziell und sächlich luxuriös mit Steuergeldern, nämlich um rund dreißig Prozent besser ausgestattet ist als die Schulen des gegliederten Schulwesens.

Es kommt hinzu:Aus der ersten PISA-Studie 2000 wissen wir, dass die einzigen Bundesländer, die damals schon international im PISA-Konzert Josef mithalten konnten, die Länder Baden-Württemberg und Bayern waren. Beide erreichten ohne Gesamtschulen ein Ergebnis, das auf der Höhe des von Gesamtschulbefürwortern hochgerühmten Schweden rangierte. Demgegenüber fielen gerade west- und norddeutsche Bundesländer mit großer Vorliebe für die Gesamtschule weit ab. Anders ausgedruckt: Hätten alle Bundesländer vergleichbare Ergebnisse wie die Baden-Württemberger und die Bayern erzielt, dann wären wir bei PISA trotz eines schulisch problematischen Migrantenanteils in beiden PISA-Studien weit vorne.

Auch der von den Gesamtschul-Euphorikern immer wieder krampfhaft bemühte Vergleich mit Gesamtschulen in anderen OECD-Ländern zieht nicht, oder er ist recht einäugig. Einäugig ist er dann, wenn er vernachlässigt, dass auch die PISA-Schlusslichter Brasilien und Mexiko ein Gesamtschulsystem haben. Und wenig zugkräftig ist er, wenn er Japan, Finnland, England oder die USA zum Maßstab nimmt. Wer nämlich glaubt, die dortigen Gesamtschulsysteme seien leistungsfähig, der verdrängt, was der Preis und der Kollateralschaden dabei ist: In Japan etwa besuchen zwei Drittel der Schüler von den Eltern umgerechnet für tausende von Dollar erkauft - eine private "juku", also eine organisierte Nachhilfeschule; das ist kein gutes Zeugnis für das öffentliche Einheitsschulsystem.

In Finnland gibt es eine viel homogenere Schülerschaft - nahezu ohne Migranten; außerdem werden in Finnland rund 20 Prozent der Kinder aus der Regelklasse herausgenommen und differenziert beschult. In England und in den USA laufen der Regelgesamtschule die Schüler und die Eltern davon - sofern sie für diesen Schulbesuch ihres Kindes Jahresgebühren von 10 000 bis 20 000 Euro Privatschule aufbringen können. Tatsache also ist: Wo immer es sich die Eltern leisten können, findet eine Abstimmung mit den Füßen gegen Einheitsschule statt. Dass damit eine hochgradige soziale Selektion in Gang kommt, das sollten sich diejenigen, die Gesamtschule aus Gründen des angeblichen Chancenausgleichs haben möchten, ebenfalls einmal vergegenwärtigen. Die Lösung deutscher Schulprobleme kann also nicht ein Ladenhüter-Rezept sein, mit dem so manche deutsche Landesregierungen ihr eigenes Schulsystem an die Wand gefahren haben. Die Bundesbildungsministerin etwa, die jetzt vollmundig die Überwindung des gegliederten Schulwesens fordert, mag sich vielleicht in einer nachdenklichen Stunde doch einmal vergegenwärtigen, was sie als damalige SPD-Vorsitzende in Niedersachsen mit zu verantworten hat, nämlich dass dieses Schulsystem mit seiner sogenannten integrierten Orientierungsstufe und seinen brachial durchgesetzten Gesamtschulgründungen bei PISA I unter allen deutschen Flächenländern den letzten Platz belegte. Die Rezepte, die damals zum Niedergang eines Schulsystems geführt habe, können ja wohl nicht jene sein, mit denen man jetzt Schule in ganz Deutschland meint reformieren zu können. Was wir vielmehr brauchen, das ist noch mehr individuelle Förderung in den Schulen des gegliederten Schulwesens. Dafür brauchen wir einen zusätzlichen Pool an Unterrichtsstunden von fünf bis zehn Prozent. Damit etwa könnte man noch viel mehr tun für die Förderung von Spitzenschülern und für die Förderung von Langsameren.

Der Autor ist Präsident des Deutschen-Lehrerverbandes und Oberstudiendirektor am MontgelasGymnasium in Vilsbiburg.

zurück