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19.Juni 2004

ifo-Chef warnt vor einer europäischen Sozialunion

Einheitliche Wohlfahrtsleistungen ziehen Massenarbeitslosigkeit nach sich - Wiesheu fordert Reformen

München. (dpa/eb) Das Münchner ifo Institut hat vor einer europäischen Sozialunion mit einheitlichen Wohlfahrtsleistungen gewarnt. Dies würde nach Ansicht von ifo-Chef Hans-Werner Sinn Massenarbeitslosigkeit wie in Ostdeutschland nach sich ziehen. Eine europäische Sozialunion nach deutschem Muster würde "20 Regionen wie Ostdeutschland" erzeugen, sagte Sinn am Freitag auf dem "Münchner Wirtschaftsgipfel". "Das kann sich niemand leisten." Die deutsche Vereinigung sei ökonomisch gescheitert. Hauptursache sei die Sozialunion mit gleichen Leistungen in Ost und West gewesen.

"Wohlfahrtsstaaten sind Magneten, die arme Leute anziehen, welche mehr Leistungen des Staates empfangen als sie selbst an Steuern und Sozialbeiträgen zahlen", sagte Sinn vor rund 130 Teilnehmem aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. In Deutschland hätten Einwanderer im Schnitt erst nach 25 Jahren mehr eingezahlt als an Leistungen empfangen. Migranten sollten für eine Ubergangsfrist nur eingeschränkte Sozialleistungen erhalten. Europa sei bereits im Prozess der Erosion des Wohlfahrtstaats. "Die Agenda 2010 ist nur einer von vielen Schritten, die noch kommen werden."

Mehrere Teilnehmer widersprachen. "Die Migration in der EU ist niedrig", sagte der niederländische Arbeitsminister Aart-Jan de Geus. Nur 0,2 Prozent der Bevölkerung zögen in ein anderes EU-Land. Ein Hauptgrund seien die unterschiedlichen Sprachen. Der frühere lettische Regierungschef und jetzige Europaabgeordnete Guntars Krasts sagte: "Ich bin absolut sicher, dass es keine Massenwanderung geben wird." Die Migrationsbereitschaft der neuen EU-Bürger sei sehr niedrig. Die Freizügigkeit des Kapitals in der EU werde größere Auswirkungen haben als die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

Bayems Wirtschaftsminister Otto Wiesheu (CSU) sagte dagegen, an Sinns Warnungen sei "was dran". In dem Maße, in dem die Einwanderung zunehme, werde es schwieriger, die Sozialsysteme aufrecht zu erhalten.

In diesem Zusammenhang betonte er, dass die Sozialpolitik nationale Aufgabe bleiben müsse. Sozialpolitik bedeute vor allem Umverteilung. "Das ist nur innerhalb der Solidargemeinschaft eines Nationalstaates akzeptabel und durchsetzbar. Hier brauchen wir keine Vorgaben aus Brüssel, sondern eigene Handlungsspielräume, um orts- und zeitnah entscheiden zu können", sagte Wiesheu.

Alle Mitgliedstaaten seien von der Globalisierung und dem demographischen Wandel betroffen. Nach Einschätzung von Bayerns Wirtschaftsminister könnten die europäischen Sozialstaaten nur dann bestehen, wenn sie sich konsequent diesen Herausforderungen stellen würden. Deshalb müsse auch Deutschland seine sozialen Sicherungssysteme gründlich reformieren, sonst würden sie unbezahlbar. "Die Losung für die Umgestaltung lautet: demographiefest, globalisierungsfest und familienfreundlicher", sagte Wiesheu. 2003 seien in Deutschland 620000 Arbeitsplätze weggefallen. Das treffe massiv den Sozialstaat und mache die Notwendigkeit wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen deutlich. Das A und 0 seien Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze. Dazu gehörten neben einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes auch ein globales wettbewerbsfähiges Steuersystem und eine Reduzierung der Lohnnebenkosten. Jeder Einzelne müsse auch mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge übernehmen. "Wir müssen Abschied nehmen von einer Vollkaskomentalität, wenn wir den unverzichtbaren Keim des Sozialstaates sichern wollen", so Wiesheu.

Derweil hat der bayerische DGB-Chef und SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Schösser Sinn vorgeworfen, den guten Ruf des ifo Instituts aufs Spiel zu setzen. "Zum Tagesgeschäft eines seriösen Wirtschaftsinstitutes gehört es nicht, Politik mit kuriosen Vorschlägen zu betreiben", sagte Schösser. Sinn betätige sich zunehmend als" agent provocateur" der Berufsfunktionäre von Unternehmerverbänden.