Das Land, in dem die Kinder Könige sind

Im ganzen Gebiet des buddhistischen Himalaja werden die Kinder ernst genommen wie wohl kaum irgendwo sonst auf der Welt. Man sieht in ihnen - gestützt auf den Reinkarnationsgedanken - eine ganzheitliche menschliche Persönlichkeit, die in den ersten Jahren des Erdendaseins ganz einfach noch einen unvollkommenen Körper hat; dieser bedarf, wie ein werdendes Pflänzchen, spezieller Fürsorge. Aus diesem Verständnis heraus wurden denn auch die kleinen Gottkönige mit allergrößtem Respekt, gleichwohl aber mit großer Strenge erzogen. Der Priesterkönig,Sakya Pandita, dessen Enkel schon im frühen Kindesalter durch seinen Charme und seine Klugheit den mongolischen Hofstaat für den Buddhismus einnahm, sagte: «Ist es ein guter Rat, so sollte man auf die Worte eines Kindes hören.» Sind es nicht oft die Kinder, die uns eine Lektion erteilen sollten und nicht wir ihnen? Mit ihrer Offenheit, Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit können sie uns leicht in Verlegenheit bringen.

Der Philosoph Walter Robert Corti sagte anläßlich der Eröffnung des Tibeterhauses im Kinderdorf Pestalozzi in der Schweiz: «Die Kinder bilden das letzte noch unentdeckte Volk unserer Erde. Es besitzt keine Gesetzgebung, keinen König, kein Parlament und kein stehendes Heer. Es lebt seit Jahrtausenden vor aller Augen und wird wohl nie zum Bewußtsein seiner selbst kommen - aber auf seinen kleinen Füßen bewegt sich die Menschheit vorwärts.» Ob sie als Nomadenkinder auf der Hochebene Tibets oder in einem Wolkenkratzer in New York aufwachsen, ob sie in einem Eskimo-Iglu auf die Welt kommen oder in einem Elendsviertel einer indischen Großstadt hausen, sie alle haben etwas gemeinsam: sie sprechen noch die Sprache des Herzens.

Betrachten wir die Geschichte der Völker. Ist sie nicht voller Arglist, Machtstreben, Neid, Vorurteilen und scheußlichster Brutalität? Das gilt für alle Nationen - Tibet nicht ausgenommen. Sind daran die Kinder schuld?

Wer macht denn aus diesem hoffnungsvollen, leuchtenden Kindervolk Chinesen und Tibeter, Mohammedaner und Hindus, Gelugpas, Kagyüpas oder Sakyapas? Bleibt so eine Hoffnung, daß sich die Menschheit eines Tages zur Menschlichkeit entscheiden könnte? Wir Erwachsenen sind es doch, die dieses Kindervolk mit unseren Ideen, Vorurteilen, Dogmen und Gesetzen so lange vergiften, bis es die Kindersprache verlernt hat, sich und andere nicht mehr versteht, sich spaltet und sich endlich bis aufs Blut bekämpft...

Gautama Buddha hat der Menschheit eine kindlich-reine, unendlich tolerante Lehre verkündet. Und auch Christus hat uns ermahnt: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht kommen ins Himmelreich.»

Wenn es wirklich einmal ein Land gäbe, in dem die Kinder Könige wären und die Könige so reinen Herzens wie die Kinder...

 Auszug aus "Tibet" von Peter Grieder (Albatros)

 

Jak-Schwanz

Ob Gebetswimpel im Winde flattern oder Jak-Schwänze liebevoll dekoriert werden, immer sind es die symbolischen fünf Farben, die uns entgegenleuchten: Rot, Blau, Grün, Gelb - und Weiß, die «Farbe», die auf geheimnisvolle Weise alle anderen Farben in sich schließt und so ihren Ursprung bedeutet.