Straubinger, 17.Jan 2005

Ständig sinkender Kindernachwuchs alarmiert Politiker

Familienministerin Schmidt pocht auf bessere Betreuung
Merkel will sich für ein Klima der Zuversicht einsetzen

Berlin. (dpa/AP) Angesichts des dramatischen Kindermangels in Deutschland gewinnt die Debatte über die Familienpolitik wieder an Fahrt. Bundesfamilienministerin Renate Schmidt beklagte: "Bei uns gibt es die schlechtesten Bedingungen, Kinder und Beruf zu vereinbaren." Die SPD-Politikerin sprach sich aufs Neue für eine bessere Kinderbetreuung und flexiblere Arbeitszeiten aus. CDU-Chefin Angela Merkel forderte die Wirtschaft auf, mehr für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte: "Der Kinderwunsch darf nicht an der mangelnden Vereinbarkeit von Familie und Beruf scheitern."

Die Kinderlosigkeit in Deutschland sei "einmalig auf der Welt", sagte Schmidt. "Zudem haben Menschen mit Kindern das Gefühl, dass Kinder in dieser Gesellschaft nicht erwünscht sind." Der Staat müsse dafür sorgen, "dass Menschen sich die Kinderwünsche, die sie haben, erfüllen können".

Nach Schmidts Worten sind es vor allem die gut ausgebildeten Mittelschichtfamilien, die immer weniger Kinder haben. Die Angst vor beruflichen Nachteilen sei ein häufig genannter Grund für Kinderlosigkeit. "Ein gutes Betreuungsangebot ist wichtig; genauso wichtig ist aber eine familienfreundliche Arbeitswelt."

Zum 1. Januar 2005 trat das von Schmidt initiierte Gesetz zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kleinkinder in Kraft. Danach sollen Länder und Kommunen bis 2010 die Plätze in Krippen und bei Tagesmüttern bei unter Dreijährigen so ausbauen, dass sie dem Bedarf von Eltern und Kindern entsprechen. Bis 2010 sollen in den westlichen Bundesländern 230 000 neue Betreuungsplätze entstehen. Länder und Gemeinden haben dafür 1,5 Milliarden Euro jährlich zu Verfügung.

Merkel kündigte in einem dpa-Gespräch eine umfassende Überarbeitung des familienpolitischen Programms ihrer Partei in diesem Jahr an. "Es muss ein klares gesellschaftliches Signal geben, dass insbesondere die Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren wollen, nicht benachteiligt werden. Und: Wir müssen in Deutschland wieder ein Klima schaffen, aus dem die Familien wieder mehr Zukunftszuversicht schöpfen", sagte sie. Die Firmen müssten vor allem hoch qualifizierten Frauen bessere Angebote machen. Dazu gehörten Teilzeitarbeit, gute Rückkehrmöglichkeiten und mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit.

Arbeitgeberpräsident Hundt betonte: "Der Kinderwunsch darf nicht an der mangelnden Vereinbarkeit von Familie und Beruf scheitern." In den vergangenen Jahren hätten die Unternehmen bereits "Enormes für eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf" geleistet, etwa mit der Einführung flexibler Arbeitszeiten und dem Aufbau von Betriebskindergärten. Auch künftig müsse eine familienfreundliche Personalpolitik eine zentrale Rolle in den Unternehmen spielen.

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, sagte, nur eine Gesellschaft, die heute ausreichend in Betreuungsangebote für Kinder investiere, "wird morgen ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit behaupten können". Der Mangel an zeitlich flexiblen Angeboten sei die entscheidende Ursache, dass besonders Frauen Teilzeitjobs nicht annehmen könnten. "Nicht am fehlenden Willen der Unternehmen, sondern an fehlenden Betreuungsmöglichkeiten scheitert eine schnellere Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung", sagte Braun.

DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer verlangte, die Unternehmen müssten dringend mehr für die Kinderbetreuung tun -"nur dann kann das Potenzial der gut ausgebildeten Frauen genutzt werden". Die Gewerkschafterin forderte eine größere Unterstützung der Firmen bei der Vermittlung von Kinderbetreuungsplätzen sowie mehr Betriebskindergärten. Auch bei Erkrankung von Mitarbeiter-Kindern müssten Unternehmen neue Wege gehen.

Bundespräsident Horst Köhler trifft sich an diesem Montag in Berlin zu einem nichtöffentlichen Gespräch mit Ministerin Schmidt, Präsident Ludwig Georg Braun und DGB-Chef Michael Sommer. Thema ist ebenfalls die niedrige Geburtenrate und Ansätze dafür, dies zu ändern.

 

Straubinger, 18.Jan2005

Deutschland soll kinderfreundlicher werden

Schmidt begrüßt Initiative des Bundespräsidenten –
Stewens fordert Behindertengeld

Berlin. (AP/dpa) Politik, Gewerkschaften, Wirtschaft und Wissenschaft wollen gemeinsam für mehr Familienfreundlichkeit sorgen. "Deutschland muss das familienfreundlichste Land Europas werden", sagte Familienministerin Renate Schmidt am Montag nach einem Treffen mit Bundespräsident Horst Köhler, Gewerkschaftern, Unternehmern und Wissenschaftlern ein. Die Ministerin äußerte sich erfreut über Köhlers Unterstützung ihrer Politik.

Köhler hatte in seiner Antrittsrede angekündigt, das Thema Familienpolitik in den Mittelpunkt in seiner Amtszeit zu stellen. An der Unterredung bei Köhler nahmen auch der Präsident des Deutschen Industrie und Handelskammertages, Georg Ludwig Braun, die Verwaltungsratsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, Liz Mohn, sowie Persönlichkeiten aus Kommunalpolitik und Wissenschaft teil.

Schmidt betonte, Familienpolitik werde zunehmend zu einem Thema der Nation, das von allen wichtigen gesellschaftlichen Kräften getragen werde. Deshalb freue es sie, "dass der Bundespräsident unsere Familienpolitik unterstützt und sich für eine Zukunft mit mehr Kindern in unserem Land engagieren will".

DGB-Chef Michael Sommer sagte im ZDF: "Wir müssen ein Klima schaffen, dass Familienpolitik, Bildung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Topthema in diesem Land wird, das ist es leider nicht." Auch die Gewerkschaften müssten ihren Teil dazu beitragen. Bei der Arbeitszeitgestaltung hätten die Gewerkschaften stärker darauf achten müssen, dass die Menschen Kinder zu betreuen haben.

Grünen-Chefin Claudia Roth begrüßte die Initiative von Köhler und sagte ihm Unterstützung dabei zu, mit einem breiten Spektrum von Beteiligten über die Familien- und Kinderpolitik zu sprechen. Sie hoffe, die Aussage von CDU-Chefin Angela Merkel habe nachhaltige Wirkung. Merkel hatte zuvor gefordert, es müsse "ein klares gesellschaftliches Signal geben, dass Frauen, die Familie und Beruf vereinbaren wollen, nicht benachteiligt werden".

Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Nicolette Kressl, verwies darauf, dass seit Januar das Tagesbetreuungsausbaugesetz in Kraft getreten sei.

Das bedeute, dass die Gemeinden bis zum Jahr 2010 ein bedarfsgerechtes Angebot an Betreuungsmöglichkeiten erreichen müssten, sagte sie im WMR. Den Vorschlag eines Familienwahlrechts, also, dass Eltern beispielsweise bei einer Bundestagswahl für ihre Kinder mitabstimmen dürfen, wies Kressl zurück.

Im internationalen Vergleich belegt Deutschland bei der Betreuung von Kleinkindern einen der hintersten Plätze. Nach wie vor gehen nur wenige Väter in Elternteilzeit. In den letzten 40 Jahren hat sich die Geburtenrate in Deutschland halbiert.

Unterdessen forderte die bayerische Sozialministerin Christa Stewens (CSU) die bundesweite Einführung eines Behindertengeldes. Die unterschiedlichen Einzelleistungen für behinderte Menschen sollten zu einem bedarfsgerechten Budget zusammengefasst werden, sagte Stewens am Montag in München. Jeder Behinderte könne dann selbst entscheiden, welche Hilfe er in Anspruch nehmen wolle. Die unionsgeführten Länder beraten ihren Angaben zufolge derzeit über einen entsprechenden Gesetzesvorschlag.

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