Landshuter,Straubinger, 22.Oktober 2004

Noch ist Unterwasserwelt von "VW" in Ordnung

Aber Schutz des Great Barrier Reefs wird zum Wettlauf gegen die Zeit -

Klimawandel ist größte Gefahr

(dpa) Auf 15 Tiefenmetern zeichnen sich die Umrisse der Yongala " allmählich düster ab. Je weiter es hinab geht, des to deutlicher zeigt sich das Heck, Kanten und Rundungen des Wracks treten aus Schemen hervor, übenvuchert von einem hügeligen Teppich aus Korallen, manche braun, viele in kräftigem Lila.

Zeit genug zum Wachsen hatten sie, denn die "Yongala" sank in einer stürmischen Märznacht 1911, mitten im Great Barrier Reef vor Australiens Nordostküste, und riss 120 Menschen in den Tod.

Nun strecken Gorgonien-Fächerkorallen ihre langen, dürren Finger vom Deck des Dampfschiffs in die See, Weichkorallen wiegen sich mit der Strömung, und um sie herum ziehen Fische ihre Bahn, scheinbar unbeeindruckt von den Gästen in Neoprenanzügen - unendlich viele Fische. Schwärme blau-gelber Füsiliere und kleiner Riffbarsche schießen im zickzack umher, Dickkopf-Makrelen, farbenfrohe Pfauen-Zackenbarsche, Regenbogen-Makrelen, Napoleon-Lippfische und Papageienfisehe gleiten vorüber. Und irgendwo muss auch "VW" sein, jener gewaltige Riesen-Zackenbarsch, der im Wrack lebt und seinen Spitznamen seiner Größe verdankt.

"An der "Yongala" ist die Riff-Welt noch in Ordnung", sagt Fergus Molloy, Meeresbiologe bei der Great Barrier Reef Meerespark-Verwaltung (GBRMPA) in Townsville im Bundesstaat Queensland. Bei zwei Tauchgängen zur Schiffshülle herum habe er dem Augenschein nach keine zerstörten Korallen entdecken können. Das ist nicht überall so in dem gewaltigen Riff, das sich über 2000 Kilometer Länge und eine Fläche erstreckt, die größer ist als die von Großbritannen, den Niederlanden und der Schweiz zusammen: das größte lebende Ökosystem der Welt und der einzige lebende Organismus der Erde, der mit bloßem Auge vom Weltraum aus zu sehen ist.

Verheerende Korallenbleiche

Längst hat der Wettlauf mit der Zeit begonnen, das Riff vor dem Menschen zu schützen. Erst 2003 hatte die GBRMPA Alarm geschlagen. "Das Great Barrier Reef ist immer stärker unter Druck", hieß es damals. Seit sich die ersten Europäer vor rund 200 Jahren in Australien niederließen, ist die Menge der vom Land ins Meer strömenden Nährstoffe um fast Fünffache und die der Sandablagerungen sogar um das Fünfzehnfache gestiegen. In 40 Jahren hat sich die Zahl der nistenden Unechten Karettschildkröten zwischen 50 und 80 Prozent verringert; von den gewaltigen Seekühen, den Dugongs, ist an der Küste Queenslands nur noch etwa drei Prozent des Bestandes übrig, den man noch Anfang der 60er Jahren zählen konnte.

Vor zwei Jahren erst war den Meeresbiologen von der GBRMPA und anderswo an einer anderen Front der Schreck in die Glieder gefahren: Plötzlich verloren die Korallen im Great Barrier Reef massenhaft ihre Farbe, zwischen 60 und 95 Prozent der rund 2900 einzelnen Korallenriffe waren betroffen. Es gibt keine Aufzeichnungen, die von einer verheerenden Korallenbleiche berichten. Erst 1998 war es zu einem ähnlichen Phänomen gekommen. Fachleute sehen steigende Wassertemperaturen als Ursache. Schon ein Grad Celsius über dem jährlichen Temperaturdurchschnitt reichen aus.

Nach dem zweiten Bleicheschub zogen die Wissenschaftler Bilanz: Fünf Prozent aller Korallen, die Tiere sind und keine Pflanzen, wurde derart schwer in Mitleidenschaft gezogen, dass ihre vollständige Erholung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird. Unten, am Wrack der "Yongala", ist von all dem nichts zu spüren. Und " VW", der gewaltige Riesen-Zackenbarsch, ist immer noch nicht aufgetaucht. Stattdessen winden sich giftige Seeschlangen dem Sonnenlicht entgegen. In der Mitte des Schiffs, wo ein viereckiges Loch gähnt, nagt eine Meereschildkröte von der Größe eines Lastwagen-Reifens am Algen bewachsenen Rumpf. Meeresbiologe Fergus Molloy nennt das Wrack "eine Oase in der Wüste" für Tiere und Pflanzen: Da rundherum nichts als Sand ist, bietet das schräg auf der Steuerbordseite liegende Wrack jede Menge Verstecke für die Tiere.Dass das Riff, größtes Weltkulturerbe der Erde, kurz vor dem Exitus steht, so weit wollen die Experten der Marinepark-Verwaltung trotz der alarmierenden Zeichen nicht gehen. Noch nicht. "Wenn man sich das gesamte Riff betrachtet, gibt es keinen ausgedehnten, nachhaltigen Trend eines Niedergangs, den wir hätten feststellen können", sagt Andrew Chin, Meeresbiologe der GBRMPA. "Wenn es in einem Teil schlecht aussieht, heißt das nicht, dass es in anderen Teilendes Riff genauso ist." Doch da ist die globale Erderwärmung, die den Wissenschaftlern am Great Barrier Reef Sorge bereitet. Vor allem, weil sie nichts dagegen ausrichten können. "Der Klimawandel ist die großte Gefahr für das Riff, und es gibt eine Menge Leute, die seine Zukunft pessimistisch sehen", sagt Chins Kollege bei der Meerespark-Verwaltung, David Haynes.

"Allein ein Grad erhöhter Wassertemperatur ist bedeutsam", sagt Chin. Die Ursache dafür ist der Mensch. "Eine Erhöhung der Wassertemperatur um ein oder zwei Grad über einen langen Zeitraum hinweg, über 50 oder 100 Jahre, wird sich signifikant auf die Korallenbleiche auswirken." Den Fährnissen des Weltklimas ausgeliefert, versuchen die Wissenschaftler der Marinepark-Verwaltung anzusetzen, wo sie etwas ausrichten können. Und das heißt für sie: Den "Stress", dem das Riff ausgesetzt ist, zu mindern. Und einer der größten Stressfaktoren ist wiederum der Mensch. "Wenn wir gesunde Riffe haben, dann sind sie viel eher in der Lage, diese Einflüsse auszuhalten", sagt Chin.

Wie rund um die "Yongala". Auf den alten Karten der GBRMPA war dort, wo das Wrack liegt nur ein winziger grüner Punkt. Inzwischen liegt ein großes grünes "L" über der letzten Ruhestätte des Schiffs: Folge, des neuen Zonenzuschnitts im Great Barrier Reef, der seit dem 1. Juli dieses Jahres festlegt, wo gefischt werden darf.

Fachleuten gilt die Ausweitung der extrem geschützten Zonen des Riffs von 4,6 auf rund 33 Prozent als Revolution. Wer dort Netze oder Angelhaken auswirft, riskiert bis zu 100000 (58500 Euro) australische Dollar Strafe. GBRMPA-Sprecher Chip Henriss-Anderssen spricht von dem größten und bedeutendsten Projekt der Meerespark-Verwaltung in ihrer rund 30-jährigen Geschichte.

Aber auch ist immer wieder das 'Wort "Kompromiss" zu hören. "Für die Fischer waren wir die Teufel", sagen GBRMPA-Mitarbeiter. In den Ausstellungshallen über das Riff in Townsville ist auf den Tafeln zu lesen, dass eine Schutzzone von 25 bis Prozent des Riffs nach wissenschaftlicher Meinung das Minimum sei. Aus politischen Gründen gibt es keine Aussicht, die Zonen über die 33 Prozent hinaus auszuweiten", heißt es. Die Lobby der Fischer, ob hobbymäßig oder kommerziell, sei einfach zu stark. Eine politische Unmöglichkeit.

In der vergrößerten "Grünen Zone" muss sich "VW" noch weniger um sein Überleben sorgen, aufgetaucht ist er an diesem Nachmittag jedoch nicht. Möglicherweise versteckt er sich vor den Bullenhaien, die andere Taucher am Wrack der "Yongala" gesehen haben wollen. Sechsbinden-Naiserfische, flunderflach ziehen vorbei, aber von dem gewaltigen Zackenbarsch gibt es nach wie vor keine Spur. Wo ist "VW "?

Den Kampf mit Lobbygruppen kennen die staatlichen Riff –Schützer zur Genüge. Als es etwa um Erkenntnisse der GBRMPA ging, dass die Zuckerrohr- und Viehindustrie entlang des Küste Queenslands durch Einleitungen von Pestiziden, Herbizien, Nährstoffen und Erdpartikeln doch einen erheblichen Einfluss auf das Riff nimmt, waren die Bauern alles andere als begeistert. "Bis vor drei, vier Jahren leugneten die Farmer jede Verantwortung", berichtet David Haynes. Dann habe sich deren Haltung quasi über Nacht geändert. "Wir haben die gesamten Erkenntnisse zusammengetragen und auf den Tisch gelegt. Da gab es wenig zu widersprechen", erinnert er sich.Und eine weitere Zahl ließ die Gegner eines verstärkten Riff-Schutzes verstummen: Die Einkünfte aus dem Geschäft mit den Urlaubern. "Wenn man der Zuckerrohr-Industrie zuhörte, sagten die immer, sie würden den größten Teil der Einkommen in der Region schaffen", berichtet David Haynes. Zwei Milliarden australische Dollar (1,2 Milliarden Euro) spült der Tourismus der Küstenlinie entlang des Riffs jedes Jahr in die Kassen. Landwirtschaft und Fischerei bringen es zusammen nur auf rund die Hälfte. "Es war ganz klar, dass die Urlaubsindustrie zu allererst geschätzt werden muss."

Taucher-Geschäft läuft gut

Das Geschäft läuft gut. Die "Jazz II", die die Taucher drei Stunden hinaus zur "Yongala" brachte, ist voll besetzt; über dem Wrack liegen bereits zwei weitere Boote. Für jeden Gast müssen die Betreiber vier Dollar an die Marinepark-Verwaltung abführen, um deren Forschung mitzufinanzieren. Die GBRMPA ist es auch, wo die Veranstalter ihre Lizenzen beantragen müssen, die bei Verstößen gegen den Naturschutz auch sofort wieder entzogen werden kann - begleitet von einer saftigen Geldbuße oder gar Haft.

Unter Wasser wird es zeitweise richtig eng, so viele Taucher tummeln sich rund um die "Yongala". Auf zehn und fünf Meter Tiefe, wo beim Auftauchen Sicherheitsstopps vorgeschrieben sind, hängen Trauben von vier bis fünf Menschen schwerelos in Neoprenanzügen an der algenbewachsenen Leine, die hinab zum Wrack führt. Fast schon ist "VW" abgeschrieben, da gibt einer der Taucher einen Fingerzeig: Etwas Gewaltiges schält sich aus dem trüben Licht heraus, ein fast rechteckiger, steingrauer und vor allem riesiger Körper mit kurzem Schwanz und stumpfer Schnauze -"VW". Nicht ganz so groß wie ein Golf, aber dennoch imposant zeigt sich der Zackenbarsch, der träge dahingleitet und seine Beobachter keine Sekunde aus den Augen läßt. Man sollte Abstand halten, hatte es geheißen. Der Kopf eines Menschen passe leicht in das Maul des "Yongala"-Bewohners.

Und die Zukunft des Riffs? "Sehr schwer vorherzusagen", sagt GBRMPA-Meeresbiologe Andrew Chin. "Die neuen Schutzzonen, die Wasserqualität, die Fischerei - all das wird diktieren, wie das Riff in den nächsten 25 oder 50 Jahren aussieht."

zurück