Straubinger,Landshuter, 20.Oktober 2004

KOMMENTARE

IN DIE SCHRANKEN GEWIESEN

VON WOLFGANG JANISCH

Die Karlsruher Reaktion kam überraschend schnell. Noch im Juni hatte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beim Caroline-Urteil zur Berichterstattungs-Freiheit über Prominente in einen offenen Widerspruch mit dem Bundesverfassungsgericht begeben. Nun kontert Karlsruhe, wenn auch in einem anderen Fall: EGMR-Entscheidungen seien von der deutschen Justiz zwar "gebührend" zu berücksichtigen - zwingend seien sie allerdings nicht. Man kann das auch anders ausdrucken: Das Bundesverfassungsgericht hat den Kampf ums letzte Wort eröffnet.

Dabei ist die Grundaussage nicht wirklich neu. Zwar sind die Staaten an Urteile des Straßburger EGMR gebunden, so steht es in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dass die deutsche Justiz aber gleichsam als Straßburger Gerichtsvollzieher fungieren und dessen Urteile eins zu eins umsetzen müsse, hat bisher niemand behauptet. EGMR-Entscheidungen stellen Verstöße gegen die Konvention fest, können aber deutsche Urteile nicht kurzerhand einkassieren.

Freilich hat der EGMR - der Gerichtshof des Europarats, nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) der EU in Luxemburg - in den vergangenen Jahren zusehends an Selbstbewusstsein gewonnen. Das gilt nicht nur für problematische Länder wie die Türkei oder osteuropäische Staaten. Auch Deutschland musste sich schmerzhafte Rügen gefallen lassen, nicht nur im Caroline-Urteil: Im Januar beanstandete der EGMR die entschädigungslose Enteignung der so genannten DDR-Neubauern nach der Wende. Und auch die Bodenreformenteignungen nach 1945 stehen noch auf dem Prüfstand.

Karlsruhe reagiert nun auf die wachsende Gegenmacht aus Straßburg. Wobei es der Zweite Senat nicht versäumt, den Einfluss der Konvention auf das deutsche Recht hervorzuheben: Die Gerichte müssen sie "gebührend" berücksichtigen und - falls sie Spielraum bei der Urteilsfindung sehen - "der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang" geben. Das Verfassungsgericht selbst stelle sich in den Dienst des Völkerrechts und vermindere damit das Risiko seiner Nichtbefolgung, versichert der Senat.

Das mag die Wirkung der Konvention durchaus steigern. Jeder Amtsrichter ist nun gehalten, auch mal einen Blick in die - zeitnah allerdings selten auf Deutsch verbreitete - Straßburger Rechtsprechung zu werfen. Doch wenn es zum Konflikt kommt, hat Karlsruhe das letzte Wort - das macht der Zweite Senat unmissverständlich klar. Und er deutet an, wie die Kollegen vom Ersten Senat die Straßburger Vorgaben in Sachen Caroline abschleifen können: Bei einer derart ausdifferenzierten Rechtsprechung wie der zum Persönlichkeitsschutz sei es Sache der deutschen Gerichte, die Entscheidung in die nationale Rechtsordnung "einzupassen".

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