R.Kiehl: wir sind nicht weit von diesen Zuständen entfernt..........

Straubinger, 4.Febr2006
Soziale Unruhen alarmieren Chinas Führer
Wachsende Einkommenskluft zwischen Stadt und Land – Schlägerbanden drangsalieren empörte Bauern

Chinas kommunistische Führung ist alarmiert. Die soziale Unruhe wächst. Verzweifelte Bauern greifen zu Gewalt. Bei Protesten sind erste Tote zu beklagen. Die drastisch zunehmenden Unterschiede zwischen Arm und Reich haben die einst kaum existierende Kluft in Chinas Gesellschaft zu einer der tiefsten der Welt werden lassen. Vor der diesjährigen Tagung des Volkskongresses, die morgen, Sonntag, in Peking beginnt, hat Staats- und Parteichef Hu Jintao erneut die Bauern in den Mittelpunkt gerückt: "Sozialistische neue Dörfer" lautet eines der Hauptziele für den neuen Fünf-Jahres-Planes, den die 3 000 Delegierten auf der zehntägigen Sitzung annehmen werden.

In einer Erklärung des Kabinetts heißt es dazu, bis 2010 könnten die Bauern eine effektive und günstige medizinische Versorgung "erwarten". Versprochen werden dafür neun Milliarden Yuan (900 Millionen Euro), damit soll eine flächendeckende Versorgung mit Ärzten und medizinischem Personal erreicht werden. Die Frage ist allerdings, ob ein solches System funktionieren kann, sagt Ray Yip vom Pekinger Büro des amerikanischen Zentrums für Seuchenkontrolle und -Prävention (CDC): Sogar die medizinischen Dienste in den Städten seien unterfinanziert, und Ärzte verschrieben unnötige Medikamente und Untersuchungen, um Umsatz zu machen, erklärt er.

"Das ist doch nur ein Slogan", kritisierte der Rechtsexperte Yao Lifa, der sich um Bauernfragen kümmert. Wegen ständiger Bewachung durch die Staatssicherheit reist er anläßlich der Tagung nicht nach Peking. Seit Jahren verkündet die Führung schon, daß den Bauern geholfen werden soll, ohne daß sich wirklich etwas ändert. "Das ist schwer zu erreichen. Die eigentlichen Probleme liegen im System." Jetzt haben Zwangsenteignungen für Entwicklungsprojekte und korrupte örtliche Regierungen die Spannungen noch verschärft. Millionen Bauern haben ihr Land und Einkommen verloren, suchen neue Arbeit in den Städten. Ministerpräsident Wen Jiabao fürchtet wachsende soziale Instabilität: "An einigen Orten wurde Land ungenehmigt enteignet und die Bauern nicht angemessen entschädigt und versorgt."

Die amtlich eingeräumten Zwischenfälle stiegen vergangenes Jahr um 6,6 Prozent auf 87000. Proteste, bei denen Behördenarbeit gestört wurde, nahmen sogar um 19 Prozent zu. Die wachsende Einkommenskluft zwischen Stadt und Land nennt selbst die oberste Wirtschaftsbehörde, die mächtige Reform- und Entwicklungskommission, "alarmierend und unzumutbar". Der Gini-Koeffizient für die Einkommensgleichheit hat längst die gültige Warnschwelle von 0,4 überschritten und liegt jetzt bei 0,53. Dieser nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini benannte internationale Meßwert zeigt bei Null perfekte Gleichheit an, während eins das gesamte Vermögen nur in einer Hand sieht. In den Städten wird heute pro Kopf schon 3,3 mal mehr verdient als auf dem Land, wo 60 Prozent der Chinesen leben. Werden die Ausgaben der Regierung für Schulen oder Gesundheitswesen berücksichtigt, sind die Städter sogar sechs mal besser dran. Die Hälfte aller Dörfer hat keinen Zugang zu Wasserleitungen, zehn Prozent nicht einmal Straßen. Mehr als 90 Prozent der Bauern sind nicht krankenversichert. "Ob die große Zahl der Bauern die Früchte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung teilen kann, hängt davon ab, ob ihre Stimme gehört und respektiert wird", plädierte das Organ der mächtigen kommunistischen Jugendliga, "Zhongguo Qingnianbao", für ein System der Mitsprache.

Örtliche Regierungen müßten "ihren patriarchalischen Arbeitsstil aufgeben und dürften "nicht die einzigen Entscheidungsträger sein". Doch Wahlen und Mitbestimmung auf Dorfebene gibt es bereits, stoßen aber immer wieder an Grenzen, wenn korrupte Parteifunktionäre ihre Macht nicht abgeben und in die eigenen Taschen wirtschaften. Empörte, hilflose Bauern werden teils mit angeheuerten Schlägerbanden in Schach gehalten. Aktivisten oder Anwälte, die Bauern über ihre Rechte beraten, werden zusammengeschlagen. Daß hier vieles im Argen liegt, schien der Kommentar mit der Mahnung einzuräumen, daß "eine reibungslose Umsetzung der Basisdemokratie" auf dem Lande entscheidend sei, ob die Initiative für "neue Dörfer" überhaupt Erfolg haben kann. Andreas Landwehr, dpa

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