Demografie: Der Statistiker Gerd Bosbach warnt vor Panikmache - Horrorszenarien sollen die Deutschen für Reformen empfänglich machen

Sterben die Deutschen aus?
VDI nachrichten, Düsseldorf, 24.3.06, has -

Die deutsche Gesellschaft altert, Horrorszenarien aber seien fehl am Platz, so der Statistiker Gerd Bosbach von der FH Koblenz. Auch langfristig könnten die Erwerbstätigen die Lasten der Alterung schultern, vorausgesetzt sie nehmen am Produktivitätswachstum teil. Junge Menschen müssten heute besser ausgebildet werden.

Eine Zahl schockte in der vergangene Woche die Republik: Nur noch 680 000 Geburten gab es 2005 in Deutschland, schätzt das Statistische Bundesamt. So wenig wie seit 1946 nicht mehr.

Sterben die Deutschen aus? Gerd Bosbach, Professor für Mathematik und Statistik an der FH Koblenz, teilt dieses Horrorszenario nicht. Rechnungen, die davon ausgehen, dass es 2300 keine Deutschen mehr geben werde, seien unseriös - Vergleichbar mit Prognosen, die im Jahr 1700 für das Jahr 2000 erstellt worden wären.

Solche Voraussagen, so Bosbach, würden ein konstantes Verhalten voraussetzen, was nicht zu erwarten sei. In seiner koordinierten Bevölkerungsprognose geht das Statistische Bundesamt für das Jahr 2050 in der mittleren Variante von einer Einwohnerzahl von 75 Mio. aus, das wäre ein Rückgang um knapp 10 %. Bosbach: "Von Aussterben kann dabei nicht die Rede sein."

Im Jahr 2004 brachte jede Frau in Deutschland 1,37 Kinder zur Welt. Um den Bevölkerungsstand zu halten, wären 2,1 Kinder pro Frau nötig. Diese Quote ist sehr niedrig, aber sie ist nicht, wie oft behauptet, die niedrigste der Welt. Und sie war auch in Deutschland schon niedriger: Mitte der 80er Jahre lag sie in der damaligen Bundesrepublik noch knapp darunter.

Trotz dieser niedrigen Geburtenrate gehört Deutschland mit 231 Einwohnern je km2 zu den am dichtesten besiedelten Ländern Europas, nur in Großbritannien, den Niederlanden und Belgien ist die Bevölkerungsdichte höher. In den USA dagegen leben 31 Einwohner je km2, in China sind es 135.

Ermittelt wird die Geburtenrate pro Frau durch ein Schätzverfahren. Zunächst wird errechnet, wie viele Frauen eines bestimmtes Alters, z. B. die Zwanziger, Kinder geboren haben. Dann wird hoch gerechnet, wie viele Kinder sie bekommen würden, wenn sie sich künftig so verhalten wurden wie alle Frauen im gebärfähigen Alter des entsprechenden Jahres. Diese Methode ist mit Unsicherheiten behaftet. Zuverlässig ließe sich die Geburtenrate für jede Frau nur rückwirkend am Ende der reproduktiven Phase ermitteln.

Weitere Ungenauigkeiten kommen hinzu. So werde im Mikrozensus, der "wichtigsten amtlichen Befragung zur Haushalts- und Familienstruktur" (Michaele Kreyenfeld vom Max-Planck-Institut für Demografische Forschung in Rostock), nicht nach der tatsächlichen Anzahl der Kinder gefragt, sondern nur nach den Kindern, die im Haushalt leben. Der Grund: Die Befragten sollten nicht genötigt werden, Auskunft über Kinder zu geben, die sie bislang verschwiegen hätten. Auch enthalten die offiziellen Statistiken keine Angaben über kinderlose Frauen. So werde der Anteil kinderloser Akademikerinnen oft auf 40 % geschätzt. Eine repräsentative Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat im vergangenen Jahr jedoch ergeben, dass nur 21 % der Akademikerinnen keine eigenen Kinder hätten.

Woher kommt das starke Interesse an Demografie? Ein Grund dürfte sein, so Bosbach, dass die Zuwanderung zurückgeht und deswegen der Geburtenrückgang nicht kompensiert werden könne. Die Angst, dass ein Volk aussterben könnte, rühre an menschliche UrÄngste. Von Politikern und Verbandsmanagern würden zudem Horrorszenarien entworfen, um das Thema Arbeitslosigkeit zu überdecken und die Menschen für den Abbau sozialer Leistungen empfänglich zu machen. Und die Finanzwirtschaft schließlich wolle stärker in den Markt der Altersvorsorge eindringen.

Bosbach mahnt zu mehr Seriosität. Auch in Zukunft sei eine steigende Zahl von Rentnern gut zu versorgen. Im Jahr 2001 mussten 100 Erwerbsfähige (alle Frauen und Männer zwischen 20 und 60 Jahren) 82 junge und Alte versorgen. Nach der mittleren Prognose des Statistischen Bundesamtes für 2050 werden es dann 112 sein. Zum Vergleich: Schon 1970 mussten 100 Erwerbsfähige für 100 junge und Alte sorgen.

Tatsächlich aber ist das aktuelle Verhältnis zwischen denen, die zur Versorgung beitragen und denen, die versorgt werden, schon heute schlechter, als es die offiziellen Zahlen vermuten lassen. Die Erklärung: Nicht alle Erwerbsfähigen sind auch erwerbstätig. Viele machen eine Ausbildung, die Erwerbsquote unter Frauen ist niedrig, zudem müssen auch die rund 5 Mio. Arbeitslosen ernährt werden. Für Bosbach ist das aber eine gute Nachricht, weil damit der Anstieg der Versorgungslasten in den nächsten Jahrzehnten geringer ausfallen dürfte.

Entschärfen ließe sich die steigende Belastung, so Bosbach, durch die Ausweitung der Erwerbsbeteiligung und eine sinkende Arbeitslosigkeit. Sollte das nicht reichen, könnte auch die Lebensarbeitszeit verlängert werden. Ein weiterer Aspekt trage zur Entspannung bei: das Wachstum der Produktivität. Bei einer Steigerung von jährlich 1,25 %, wie von der Herzog-Komission angenommen, wächst die Leistung bis 2050 um 84 %, bei 1,8 % (Rürup-Kommission) sogar um 140 %. Zu einer großen Belastung würde die Alterung nach Ansicht von Bosbach künftig nur dann, wenn Produktivitätssteigerungen nicht mehr an die Beschäftigten weitergegeben wurden. Auch wenn Bosbach optimistischer ist als viele Demografen, ist das für ihn kein Anlass, alles so zu belassen, wie es ist. Er fordert eine bessere Bildungspolitik und bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Jugendlichen, die heute Schulen und Hochschulen besuchen, müssten so gut ausgebildet werden, dass sie in 40 und 50 Jahren auch die wirtschaftlichen Lasten stemmen könnten. Bosbach: "Viele klagen, dass wir zu wenig Kinder hätten, doch die, die wir haben, versorgen wir nicht richtig." Zudem zeige Frankreich, dass sich die Geburtenrate in kurzer Zeit deutlich erhöhen lasse: sie stieg von 1,65 im Jahr 1993 auf 1,90 im Jahr 2004. HARTMUT STEIGER

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