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Zellbiologie aktuell - 30. Jahrgang - Ausgabe 2/2004


27.DGZ-Jahrestagung in Berlin
Was hemmt Europas Forschung?
Gottfried Schatz

Vor vier Jahren trafen sich die Wissenschaftsminister der Europäischen Union in Lissabon und beschlossen, die EU in zehn Jahren zum kompetitivsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Dieser Beschluss erinnert fatal an einen der amerikanischen Bundesregierung vom Jahre 1893, der festlegte, dass für die USA ab sofort das metrische System der Grundstandard für Länge und Masse sei. Wissenschafts- und Technologiepolitik war also schon immer von offiziellem Wunschdenken geprägt. Denn es ist eine traurige Tatsache, dass Europa in Forschung und technologischer Innovation immer weiter hinter die USA zurückfällt.

Dies gilt sogar für erstrangige europäische Wissenschaftsnationen wie Deutschland und die Schweiz. Die Schweiz kann sich wenigstens damit trösten, dass ihre Innovationskraft vom Ausland oft unterschätzt wurde. Ein Beispiel dafür ist der berühmte Film "Der dritte Mann", in dem Orson Welles einem Hauptdarsteller folgende Worte in den Mund legte: Italien hatte unter der dreißigjährigen Herrschaft der Borgias Krieg, Terror, Morden und Blutvergießen, aber es gab uns Michelangelo, Leonardo da Vinci, und die Renaissance. In der Schweiz hatten sie Bruderliebe, fünfhundert Jahre Frieden, und Demokratie. Und was brachte das? Die Kuckucksuhr! Dieses bissige Bonmot ist gleich doppelt unfair, weil es die Schweiz erst noch mit fremden Federn schmückt: die Kuckucksuhr stammt nämlich gar nicht aus der Schweiz, sondern aus dem deutschen Schwarzwald!

Deutschlands Wissenschaft hatte bisher kein solches Imageproblem. Sie war, mit einer durch den Zweiten Weltkrieg bedingten etwa dreißigjährigen Unterbrechung, international stets hoch geachtet. Als Chemiestudent lernte ich, dass Deutschland dank seiner innovativen Chemie- und Pharmaindustrie seit Generationen die Apotheke der Welt sei und es nicht in Naturwissenschaft und Technologie, sondern auch in den Geisteswissenschaften brilliere.

Doch Deutschlands Wissenschaft ist, wie die der meisten europäischen Staaten, im Sinkflug. Und Frankreichs Wissenschaft scheint gar zum Sturzflug angesetzt zu haben. Deutschlands Pharmaindustrie hat gegen die internationale Konkurrenz gewaltig an Terrain eingebüßt. Die meisten europäischen Universitäten rangieren weit hinter den besten der USA und können kaum noch wissenschaftliche Superstars aus dem Ausland als Professoren berufen.

Dies müsste nicht so sein. Wir Europäer haben den gleich hohen Lebensstandard wie die Bewohner der USA, ungefähr das gleiche Pro-Kopf-Einkommen, wahrscheinlich die bessere Infrastruktur und sicher das bessere allgemeine Schulsystem. Wir publizieren sogar mehr wissenschaftliche Arbeiten als die USA. Und trotzdem schätze ich, dass heute mindestens zwei Drittel aller wirklich fundamentalen wissenschaftlichen und technologischen Innovationen aus den USA kommen. Dies gilt ganz besonders für die Biomedizin. Ein Grund dafür ist natürlich, dass viele europäische Staaten Forschung und Entwicklung nicht ausreichend finanzieren. Aber es liegt nicht nur am Geld. Unsere Innovationskraft kränkelt auch aus anderen Gründen. Was hemmt sie? Wie können wir Europa innovativer machen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst darüber klar sein, was Innovation ist und wie sie entsteht.

Innovation bedeutet Neue Ideen. Diese dürfen sich nicht nur auf Naturwissenschaft und Technologie beschränken, denn Europas akuteste Probleme, welche die Gemüter erhitzen und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind soziale und politische Probleme, die mit Naturwissenschaft und Technik allein nicht zu lösen sind.

Innovation lässt sich nicht vererben. Jede Generation muss sie neu erkämpfen. Der Wettkampf um neue Ideen ist heute weltweit, unerbittlich, und so schnell wie noch nie. Ein mühsam erkämpfter Vorsprung kann in wenigen Jahren verspielt sein.

Der Begriff "Innovation" kann Verschiedenes bedeuten. Manche meinen damit die Einführung eines neuen Marktprodukts. Andere meinen damit die Entwicklung dieses Produkts aufgrund von Forschungsergebnissen der Grundlagenforschung. Und schließlich kann "Innovation" auch eine bahnbrechende Erkenntnis der langfristigen Grundlagenforschung bedeuten. Ich möchte mich heute auf diesen dritten Aspekt konzentrieren. Erstens ist er mir besonders vertraut, weil ich mein ganzes berufliches Leben lang Grundlagenforschung betrieben habe. Und zweitens sind bahnbrechende Erkenntnisse letztlich die Quellen, die alles andere speisen.

Wie entsteht Innovation? Wie kommt es, dass einige Menschen sehen, was jeder sieht, dabei aber denken können, was noch keiner gedacht hat? Ich weiß es nicht, obwohl mich das Rätsel menschlicher Kreativität schon immer fasziniert hat. Vielleicht haben einige von uns die naive Neugier und den Spieltrieb bewahrt, der Kinder dazu bewegt, komische Worte zu erfinden oder einen Pullover verkehrt herum anzuziehen. Vielleicht braucht es den unbefangenen Spieltrieb eines Kindes, um intuitiv zu erkennen, dass der Weg von A nach C nicht über B fährt, sondern über X oder Z. Was immer die Erklärung sein mag, die Geschichte der Wissenschaft zeigt deutlich, dass die meisten grundlegend neue Ideen nicht von organisierten Gruppen oder Institutionen stammen, sondern von einzelnen begabten Menschen.

Was ist das Kennzeichen einer wirklich grundlegend neuen Idee? Dass sie uns überrascht. Sie überrascht uns umso mehr, je innovativer sie ist. Das gleiche gilt auch für ein Kunstwerk, und dies ist kein Zufall: Künstlerische und wissenschaftliche Kreativität schöpfen aus der gleichen rätselhaften Quelle, die tiefster Ausdruck unserer Individualität ist. Die breite Öffentlichkeit und leider auch viele Forschungspolitiker meinen, Forschung sei ein streng logischer Vorgang, in dem die Forschenden geduldig Stein auf Stein setzen, bis das minutiös vorausgeplante Gebäude beendet ist. Aber innovative Forschung ist genau das Gegenteil: sie ist intuitiv, voller Überraschungen, kaum planbar, und oft chaotisch - genau wie innovative Kunst. Innovative Grundlagenforschung ist kein geordneter Spaziergang auf einer freigeräumten Straße, sondern eine Expedition in die unbekannte Wildnis, in der sich die Forschenden oft verirren. Wo strenge Ordnung herrscht, sind die Karten bereits gezeichnet und die besten Forscher bereits woanders.

Wenn man Forschung zu sehr plant, zu sehr reguliert, und zu sehr zentralisiert, hemmt man ihre Innovationskraft. Wir Wissenschaftler müssen dies Öffentlichkeit und Politik immer wieder klar machen. Vor kurzem forderte der Schweizer Bundesrat mehr als 40 zusätzliche Personalstellen für Wissenschaftsverwaltung - und dies, obwohl die Wissenschaftsverwaltung der Schweiz bereits heute die Komplexität eines Genfer Uhrwerks hat, ohne jedoch auch nur annähernd dessen Präzision zu erreichen. Mit den Mitteln für diese zusätzlichen Personalstellen könnte die Schweiz ein neues Universitätsinstitut errichten oder einige hochrangige Forscher ins Land holen. Wie mir deutsche Kollegen zuflüstern, ist auch Deutschland nicht für seine schlanke und flexible Verwaltung bekannt. Verwaltungen sind dazu da, um Ausnahmen, unerwartete Probleme und Fehler zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass politische Entscheide nach einheitlichen Regeln in Tat umgesetzt werden. Doch Innovation lebt von Ausnahmen, unerwarteten Problemen, Fehlern und Regelverletzungen; deshalb sind zu viel Verwaltung und Organisation stets Innovationsbarrieren. Innovation wird von begabten Querdenkern vorangetrieben, die allgemein akzeptierte Regeln und Ideen in Frage stellen und den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen. Und nur wer gegen den Strom schwimmt, kann neue Quellen entdecken.

Eine weitere Innovationsbarriere ist die Angst vor Exzellenz. Europa scheut immer wieder davor zurück, gezielt die Besten zu fördern, besonders wenn dadurch das Mittelmaß weniger oder gar nichts bekommen sollte. Dies gilt auch für viele europäische Schulen und Universitäten. Diese scheinen nicht erkennen zu wollen, dass wir die meisten neuen Ideen besonderen Talenten verdanken, und wir diese Talente weder planen noch schaffen können. Wir können sie aber sehr wohl hemmen oder zerstören. Die ort vertretene Meinung, ein Talent setze sich immer durch, ist unsinnig. Talente sind verletzlich. Und zumindest in den Naturwissenschaften braucht ein Talent meist eine komplexe Infrastruktur, um sich entfalten zu können.

Unsere Grundschulen sollten also besonders begabte Kinder gezielt fördern. Doch dies tun sie meist nicht. Die Schweiz hat zu Recht Spezialschulen für emotionell gestörte oder intellektuell oder körperlich behinderte Kinder, aber nur ganz seiten solche für ungewöhnlich begabte. Dies erschiene vielen "undemokratisch" Dabei vergessen wir, dass Demokratie zwar gleiche Chancen garantiert, nicht aber gleiches Talent oder gleichen Erfolg. Exzellenzförderung ist für viele europäische Staaten ein Tabu. In der Schweiz gibt es eine private Stiftung zur Förderung begabter junger Menschen. Der Vizepräsident dieser Stiftung bestätigte mir auf meine Anfrage schriftlich, dass seine Stiftung prinzipiell auf die Förderung von Hochbegabten verzichte. Dieses bemerkenswerte Glaubensbekenntnis definiert prägnant Europas Scheu vor Exzellenz.

Eine dritte Innovationsbarriere ist die Angst vor dem Fehler. Ich meine hier nicht den Fehler des Stümpers, sondern den, der jede Neuerung begleitet und Teil des Forscheralltags ist. Deutsche und schweizerische Grundschulen setzen oft zu sehr auf Auswendiglernen und das Vermeiden von Fehlern, und zu wenig auf konstruktives Querdenken und Freude an eigenem Entdecken. Damit entmutigen sie junge wissenschaftliche Talente, denn neue Ideen brauchen Selbstvertrauen und den Mut zum Fehler. Ich habe über den Misserfolg meiner eigenen Experimente nie eine Statistik geführt, schätze aber, dass mindestens 90% von ihnen Misserfolge waren. Fast jedes misslungene Experiment ist aber ein Hinweis auf den richtigen Weg. Es gibt dafür kein besseres Beispiel als die Entwicklung des Lebens auf unserer Erde. Wenn die Evolution alles daran gesetzt hätte, Fehler zu vermeiden, wären wir alle hier im Saal noch Bakterien. . Und wenn es begabte junge Köpfe trotz aller Entmutigungen endlich geschafft haben, an einer Universität zu forschen, kämpfen sie gegen die zwei fatalsten Innovationsbarrieren Europas. Eine dieser Barrieren ist, dass unsere Universitäten nur ganz punktuell Orte der Wissenschaft sind, obwohl dies ihr oberstes Ziel sein sollte. Ich sage bewusst "Wissenschaft" und nicht "Forschung und Lehre", denn es gibt keine Wissenschaft ohne Lehre, ohne die Weitergabe des Wissens an die folgenden Generationen. Ich habe in den vergangenen Jahren zahllose Konferenzen zur Reform von schweizer, österreichischen und deutschen Universitäten mitgemacht und dabei vorwiegend von Finanzen, politischen Trägerschaften und Organisationsstrukturen gehört. Das Wort Wissenschaft wurde fast nie erwähnt. Für jemanden, der sich zufällig in unser Sitzungszimmer verirrt hätte, hätte die Diskussion ebenso gut die Reorganisation von Pensionskassen oder staatlichen Eisenbahnen behandeln können. Der Rektor einer schweizer Universität ermahnte mich einmal in einem strengen Brief, dass Wissenschaftler sich nicht in Universitätspolitik einmischen sollten. Wiederum ein bemerkenswertes Glaubensbekenntnis, das prägnant sagt, was an unseren Universitäten nicht stimmt.

Die jungen Forschenden kämpfen an unseren Universitäten auch gegen unklare und unfaire Karrierestrukturen, die es ihnen verwehren, in ihren kreativsten Jahren die eigenen Ideen zu verwirklichen. Meist wissen sie auch nicht, wie es nach Ablauf ihrer befristeten Anstellung weitergehen soll. Manche sind auf Gedeih und Verderb einem Vorgesetzten ausgeliefert, der nicht nur ihr persönliches Schicksal bestimmt, sondern auch das, worüber sie forschen dürfen. Habilitationen mit ihren persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen sind noch immer weit verbreitet, obwohl sie ein unfaires und veraltetes Kuriosum des deutschsprachigen Raumes sind. Deutschlands Experiment mit Juniorprofessuren ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch dieser Schritt ist nicht genug. Die starren und gerade für Biologen meist zu kurzen Zeitlimite der Juniorprofessuren diskriminieren gegen ungewöhnliche Menschen und ermuntern zu kurzfristigem Forschen. Und das Fehlen eines tenure track erlaubt keine Karriereplanung mit akzeptablem Risiko. Unsere Universitäten sind nur allzu oft effiziente Kreativitäts- und Talentvernichter. Sie haben Mühe zu erkennen, dass wissenschaftliche Innovation in flachen Hierarchien gedeiht, in denen nicht Alter oder offizieller Status zählen, sondern Kompetenz, Motivation und Originalität. Innovation liebt das "kontrollierte Chaos", das nur sehr wenige akademische Führerpersönlichkeiten schaffen und managen können. An der idealen Universität sollten sich Dozierende und Studierende so wenig wie möglich voneinander unterscheiden. Beide Gruppen sollten forschen und bereit sein, voneinander zu lernen. Das Fehlen einer selektiven und gleichzeitig fairen akademischen Karrierestruktur ist die schwerwiegendste Innovationsbarriere Europas. Die erste Empfehlung des im Jahre 2000 neu besetzten schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats an die schweizer Bundesregierung war es, an den schweizer Universitäten das angelsächsische tenure track System zu etablieren. Dieses System ist eine selektive akademische Karrierestruktur, die den besten Talenten schon früh wissenschaftliche Unabhängigkeit und eine zwar riskante, aber auch faire und planbare Laufbahn bietet. Obwohl die besten Universitäten der USA dieses System seit Jahrzehnten erfolgreich anwenden, wird es von vielen unserer Universitätskollegen hartnäckig bekämpft. Und diese Kollegen sind nicht nur ehrwürdige Ordinarien, sondern auch jüngere Vertreter des sogenannten akademischen Mittelbaus, die vor allem einen sicheren und permanenten Assistentenjob wollen. Universitäten brauchen Mittelbaustellen, sollten sie aber als Durchgangsstation einsetzen, um die Besten für eine Universitätskarriere auszuwählen. Jede permanent besetzte akademische Mittelbaustelle ist ein potenzielles Attentat auf die Innovationskraft einer Universität.

Zum Abschluss muss ich noch eine Innovationsbarriere erwähnen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten eine europäische Spezialität war, heute aber dank der Politik von George W. Bush auch die USA erfasse hat. Diese Innovationsbarriere ist der Glaube, Forschung werde innovativer, wenn man ihr ein möglichst konkretes Ziel vorschreibt. Viele offizielle Programme für Grundlagenforschung zwingen die Forschenden, sich auf sogenannte "relevante" Probleme zu konzentrieren:Waldsterben, Aids, Gender Studies, Krebs, Klimaveränderungen, oder Bioterror. Diese politisch dominierte Grundlagenforschung wird auch "orientierte" Forschung genannt. Oft schreibt sie den Forschenden auch vor, als Netzwerk zu arbeiten, deren Partner nach Geschlecht, Sprache oder geografischer Lage "ausgewogen" sind. Es ist aber unsinnig zu glauben, Grundlagenforschung müsse "fokussiert", "relevant" und "interdisziplinär" sein oder in von oben verordneten Netzwerken erfolgen. Grundlagenforschung schafft sich oft erst ihre eigenen Ziele. Wenn diese bereits von Anfang an feststünden, wäre die Forschung wohl kaum innovativ. War Nietzsche vernetzt? War Max Planck interdisziplinär? Beide Fragen sind unsinnig.

Jede gute Forschungspolitik muss die Dynamik und die Verletzlichkeit menschlicher Kreativität respektieren. Wenn Forschungspolitik zu rnanipulatorisch wird, erstickt sie das, was sie fördern soll. Wenn wir Europäer mehr neue Ideen wollen, müssen wir vor allem drei Punkte beachten. Wir müssen rigoros, aber fair die besten Forschertalente auswählen. Wir müssen ihnen die nötigen Mittel geben. Und wir müssen sie dann ihrem Forscherinstinkt folgen und frei forschen lassen.

Anschrift des Autors:

Gottfried Schotz
Professor emeritus für Biochemie
Biozentrum der Universität Basel
Präsident (2000 - 2003) des schweizerischen
Wissenschafts- und Technologierates
Gottfried.Schatz@unibas.ch

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