Deutschlands größter Staatsmann

zwischen Bismarck und Adenauer

Gustav Stresemann war der berühmteste und umstrittenste Politiker der Weimarer Republik

Von Dr. Albert H.V.Kraus

Sein Charakterbild schwankt in der Geschichte. Er wurde als Realpolitiker gelobt und als Landesverräter angefeindet, als vorbildlicher Europäer gepriesen und als Vorläufer Hitlers geschmäht. Zur Hochzeit seines Wirkens war er, wie Rudolf Olden 1929 feststellte, ein Spiegelbild Deutschlands. Heute ist das Bild Gustav Stresemanns (1878-1929) im deutschen Geschichtsbewußtsein verblaßt. Dabei war der Staatsmann Träger des Friedensnobelpreises von 1926 - das größte politische Talent, das Deutschland zwischen Otto von Bismarck (1815-1898) und Konrad Adenauer (1876-1967) hervorgebracht hat.

Stresemanns große Zeit kam nach dem Ersten Weltkrieg, Adenauers Glanzzeit nach dem Zweiten. Die beiden kannten sich ganz gut, hielten aber nicht viel voneinander, wie das unter bedeutenden Menschen nicht selten vorkommt.

 

Friedensnobelpreis 1926 zusammen mit Aristide Briand

 

 

Das schlimme Jahr 1923

Deutschland 1923 - ein Staat am Rande des Abgrundes. Die Republik von Weimar ist gerade vier Jahre alt. Jetzt erlebt sie ihr schlimmstes Jahr. Seit Januar halten Frankreich und Belgien das Ruhrgebiet besetzt. Die Deutschen antworten mit "passivem Widerstand": einem Generalstreik im besetzten Gebiet. Der verschlingt Unsummen, die Banknotenpresse wird zur Streikkasse, produziert wird nichts. Der Geldwert sinkt ins Bodenlose. Im Januar kostet ein Dollar 20000 Reichsmark, im August eine Million. Geldvermögen und Sparkonten lösen sich in Luft auf, Sparer werden zu Bettlern, Der Inhalt der Lohntüte ist wertlos, endlos die Warteschlangen vor den Armenküchen.

Zum wirtschaftlichen Chaos gesellt sich das politische. Unruhen in Sachsen, Thüringen, Hamburg und Bayern, blutige Zusammenstöße zwischen Radikalen von rechts und links und der Polizei. Separatisten im Rheinland wollen die Trennung vom Reich. Bürgerkrieg liegt in der Luft.

Ende des Ruhrkampfs

In dieser Lage wird der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei (DVP), Gustav Stresemann, von Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) zum Regierungschef berufen. Er bleibt es nur 103 Tage lang, aber in diesen 103 Tagen rettet Stresemann das Reich. Gegen die Mehrheitsstimmung im Volk bricht Stresemann den Ruhrkampf ab - ein Schritt, der Löwenmut erfordert -, weil nur so die Währung stabilisiert, die Arbeitslosigkeit gebremst und die inneren Gefahren bewältigt werden können. Mit der neuen Währung, der Rentenmark, stoppt Stresemanns Kabinett der Großen Koalition die Inflation.

Nun gibt es wieder ehrlichen Lohn für ehrliche Arbeit. Extremistische und separatistische Aufstände werden niedergeworfen, eine Gewaltleistung. Und doch muß Stresemann demissionieren ("Ich habe dieses Hundeleben satt!") , als ihm die Sozialdemokraten wegen des ungleichen Vorgehens gegen Sachsen und Bayern die Gefolgschaft aufkündigen.

Aber er bleibt Außenminister. Und das macht ihn in den Jahren wirtschaftlicher und kultureller Blüte, die nun folgen (1924-1929), zum berühmtesten und umstrittensten Politiker Deutschlands. Seine Außenpolitik war realistisch und erfolgreich, aber unpopulär.

Geachteter Partner

Unter Stresemann wurde Deutschland vom Prügelknaben der Siegermächte zu ihrem geachteten Partner. Die Wirtschaft ließ die Talsohle hinter sich und eilte einer Hochkonjunktur entgegen. Die besetzten Gebiete wurden allmählich geräumt. Die"Erbfeindschaft" zwischen Deutschen und Franzosen machte einem zarten Flirt zwischen Michel und Marianne Platz.

Doch all das erreichte der Außenminister durch eine "Erfüllungspolitik", die Trotzgesten mied, und durch eine auf Verständigung hinzielende "Realpolitik", die nationalistischen Rechtskreisen bis hinein ins deutsche Bürgertum ein Dorn im Auge war.

Gustav Stresemann kam aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater betrieb in der Köpenicker Straße in Berlin einen Bierverlag und eine Kneipe. Der Sohn war ehrgeizig und intelligent, studierte Volkswirtschaft, führte den Doktortitel, ein gebildeter Mann: Lateinische Zitate, Burschenherrlichkeit, ein Liebhaber deutscher Romantik und klassischer Musik.

Als Abgeordneter der Nationalliberalen setzt er im Ersten Weltkrieg auf einen Siegfrieden und Annexionen. Das Dreiklassen-Wahlrecht in Preußen will er abschaffen, die Reichsverfassung demokratisieren. Der Dünkel des Arrivierten war ihm fremd. Schnelles Denken, Geistesgegenwart und taktisches Geschick verschaffen ihm Autorität.

Überdies ist er ein begnadeter Redner, dem die Belesenheit des Bildungsbürgers zugute kommt. Die Hinwendung zur Republik fällt dem Monarchisten schwer. Auch die Abwendung von den Illusionen der gesinnungslauten Rechten.

Friedensnobelpreis

Seine Gegner beschuldigten ihn, die deutschen Interessen zu verraten. Das Gegenteil wollte der Außenminister: Deutschlands Stellung allmählich zu stärken. Das gelang ihm auch. Schlüsselthema der europäischen Politik war das deutsch-französische Verhältnis. Im Vertrag von Locarno (1925) erreichte die beiderseitige Annäherung einen ersten Höhepunkt. Deutschland akzeptiert die französische Ostgrenze und die Entmilitarisierung des Rheinlandes und verzichtet damit freiwillig auf Elsaß-Lothringen. So wird das französische Sicherheitsbedürfnis befriedigt. Paris verzichtet auf eine Festsetzung im Rheinland und zieht Truppen aus dem Rheinland ab. Die extreme Rechte schreit derweil "Verrat". Hitlers Anhänger trachten dem Außenminister ganz offen nach dem Leben:" Stresemann, verwese Mann! "

Mit Aristide Briand (1862-1932), Frankreichs Außenamtschef, verbindet ihn ein gutes menschliches Einvernehmen. 1926 erhalten beide den Friedensnobelpreis, Lohn ihrer Verständigungspolitik.

Aufnahme im Völkerbund

Diese mündet in die Aufnahme des nach Kriegsende geächteten Deutschlands in den Genfer Völkerbund, Vorläufer der UNO. Dort ernten die Reden des Deutschen ("Freiheit, Friede und Einigkeit") und des Franzosen ("Weg mit den Kanonen! Freie Bahn für Versöhnung!") am 10. September 1926 tosenden Applaus. Zu Hause werden die beiden von "Hardlinern" als "Illusionisten" und "Landesverräter" gebrandmarkt. Bald schon zerstörte ein Frosteinbruch die Blüten des deutsch-französischen "Völkerfrühlings". Stresemann und Briand waren ihren Völkern weit vorausgeeilt.Schlaganfall mit 51Am 3. Oktober 1929 erlag Reichsaußenminister Dr. Gustav Stresemann einem Schlaganfall. Er war erst 51 Jahre alt, zuletzt eine gebrochene Existenz, der das Politikerleben - Überarbeitung, Dauerärger und Undank - buchstäblich an die Nieren gegangen war. Der plötzliche Tod löste in Deutschland und weltweit einen Schock aus.

Die Franzosen trauerten wie um einen der ihren. Die römische Presse feierte Stresemann als den größten deutschen Staatsmann seit Bismarek. Selbst Ossietzky stand in der linken "Weltbühne" nicht an, das allzu frühe Ende des Mannes mit der "in Deutschland einzigartigen politischen Begabung" zu beklagen.

Der Staatsakt für den Toten fand am 6. Oktober 1929 statt. Hunderttausende waren erschienen. Stresemann wurde wie ein König zu Grabe getragen. Ein Volksbegräbnis, das den Abschied von den kurzen Blütejahren der Republik von Weimar markierte.

Drei Wochen nach Stresemanns Ende stürzte der "Schwarze Freitag" an der Börse von New York die Völker in die Weltwirtschaftskrise. Diese spülte in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht. Diese schmähten Stresemann wahrheitswidrig als "antinational" und "undeutsch", sie zerstörten sein Ehrenmal in Mainz und zwangen seine Witwe mit den beiden Söhnen in die Emigrationnach Amerika.

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