Straubinger, 22.Febr2006
UN-Bildungsexperte kritisiert fehlende Chancengleichheit
Munoz: Kinder werden zu früh auf die einzelnen Schularten verteilt

Berlin. (dpa) Deutschland muss nach Auffassung des UN-Menschenrechtsexperten Vernor Munoz mehr für die Bildung von Ausländerkindern und Schülern aus armen Elternhäusern tun. Wenn diese Kinder nicht bessere Bildungschancen erhielten, würden Armut und soziale Ungleichheit weiter verschärft, sagte Munoz am Dienstag zum Abschluss seiner zehntägigen Inspektionsreise durch deutsche Kindergärten und Schulen. Kritische Anmerkungen machte er auch zum Bildungsföderalismus. Dagegen lobte er die Debatte über frühe Bildung schon im Kindergarten, die aber kostenfrei sein sollte.

Der UN-Sonderberichterstatter kritisierte die in Deutschland übliche "sehr frühe" Verteilung von zehnjährigen Kindern auf Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien, wodurch herkunftsbedingte Nachteile noch verstärkt würden. Deutschland sollte deshalb eine offene Debatte "über Struktur, Inhalte und Organisation" seiner Schulen führen. "Das volle Potenzial der Kinder wird nicht ausgeschöpft. Die Bildung bezieht nicht alle ein", beklagte Munoz. Studien hätten gezeigt, dass bei Zehnjährigen sich nahezu jede zweite Schulform-Zuweisung durch die Lehrer später als falsch herausstelle.

In allen anderen Staaten gehen Kinder länger gemeinsam zur Schule. Der internationale PISA-Test hatte gezeigt, dass in keinem anderen Industriestaat die Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft so groß ist wie in Deutschland. Munoz versicherte, er habe bei seinen Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass der "PISA-Schock" in Deutschland Bildungsreformen ausgelöst habe. Es gebe ein Bildungssystem "vor und nach PISA". Kritisch äußerte sich Munoz zu den wachsenden Befugnissen der Bundesländer in der Bildung.

Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) sagte über die Empfehlungen von Munoz, es gebe "Konsens, aber auch unterschiedliche Positionen". Schavan forderte, dass künftig auch an jeder Hauptschule die Möglichkeit bestehen müsse, einen mittleren Bildungsabschluss zu erwerben. Bayerns Kultusminister Siegfried Schneider wies Munoz Kritik zurück. "Wenn man nur zehn Tage Zeit hat, um ein Land wie Deutschland zu bereisen, und in Bayern nur an einem Vormittag Schulen besucht, dann kann man nur einen oberflächlichen Eindruck gewinnen", sagte der Minister im Bayerischen Rundfunk.

 

FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND, 22.Febr2006
Uno kritisiert Auslese an Schulen
Sonderberichterstatter Munoz fordert Debatte über Struktur des deutschen Schulsystems – Frühförderung soll kostenlos sein

FRIEDERIKE VON TIESENHAUSEN, BERLIN

Die Uno hat die frühe Selektion im deutschen Schulsystem scharf kritisiert. Dadurch werden soziale Unterschiede weiter verschärft, sagte der Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vemor Munoz. In den meisten Bundesländern werden Kinder im Alter von zehn Jahren auf weitergehende Schulen aufgeteilt. "Ich habe das Gefühl, dass sich das deutsche Bildungssystem nicht darauf konzentriert, alle einzubeziehen, sondern dass es eher Trennungen schafft", sagte der Experte.

Das schlechte Zeugnis der Vereinten Nationen dürfte der Reformdebatte in Deutschland neue Brisanz geben. Munoz Schlussfolgerungen waren zwar durch die Ergebnisse der Pisa-Tests bereits bekannt. In so deutlicher Form wie der Juraprofessor aus Costa Rica hat bisher jedoch selten ein internationaler Experte die deutsche Bildungspolitik kritisiert.

Munoz forderte eine Debatte über die Struktur des Bildungssystems. "Die sehr frühe Trennung führt dazu, dass nicht das volle Potenzial der Kinder ausgeschöpft werden kann." Das gehe vor allem zu Lasten von Migranten: "Die frühe Auslese hat negative Konsequenzen für die, die sowieso schon Probleme haben."

Weitere Kritik gab es am deutschen Föderalismus. Munoz bemängelte, dass die Bundesländer bereits jetzt dramatisch unterschiedliche Beträge für Bildung ausgäben. Manche Länder gäben 3800 E pro Kind und Schuljahr aus, während andere sich Schulbildung 6300 E im Jahr kosten ließen. "Das führt zu großen Disparitäten", monierte Munoz. Auch die nunmehr beschlossene Föderalismusreform, nach der sich der Bund in Bildungsfragen fast vollständig zurückzieht, sieht er mit Sorge. "Die Tendenz zu mehr Kompetenzen auf Länderebene zeigt, dass der Bund die Möglichkeit verliert, die Einheit und Gleichberechtigung zu gewährleisten", sagte Munoz.Die Kritik kam vor allem der Union ungelegen. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) hatte bereits zu Beginn von Munoz Besuch deutlich gemacht, dass sie keine erneute Auseinandersetzung über das gegliederte Schulsystem wünscht. An Munoz Adresse sagte sie gestern, eine Strukturdebatte könne sich nicht nur auf die Allgemeinbildung konzentrieren: "Bei der Strukturdebatte können wir nicht ohne die Erfolge der beruflichen Bildung argumentieren." In Deutschland erreichten 85 Prozent eines Jahrgangs einen Abschluss der Sekundarstufe II. Im Schnitt der Industrieländer läge dieser Anteil nur bei zwei Dritteln.

Schavan machte auch deutlich, dass der mühsam errungene Kompromiss zwischen Union und SPD zur föderalen Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern nicht wieder aufgeschnürt würde. Außerdem müsse der Föderalismus im Bildungswesen nicht als Hinderungsgrund gesehen werden. Kanada hätte zum Beispiel ein sowohl sehr dezentralisiertes als auch sehr durchlässiges Bildungssystem.

Auf mehr Resonanz stieß Munoz bei der SPD. Bildungssprecher Jörg Tauss sagte: "Die Kritik des Sonderberichterstatters am zunehmenden Bildungsföderalismus muss ernst genommen werden." Eine öffentliche Debatte sei dringend nötig. Bildungspolitik müsse sich vor allem darum bemühen, soziale Ungleichheit zu überwinden.

Kritik kam auch von den Grünen: Schavan hoffe auf eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusreform, sagte Fraktionsvize Krista Sager: "Sie gibt allerdings keine Begründung, warum dies erst dann stattfinden soll, wenn es keine verfassungsrechtliche Basis und auch keinen Ort der Koordination mehr gibt. Allein auf den guten Willen und die Vernunft aller Beteiligten zu hoffen ersetzt keine durchdachte Reform."

Munoz bemängelte außerdem, dass Deutschland immer noch nicht die Kinderrechtskonvention voll umgesetzt habe. Diese gibt 16 bis 18-Jährigen ein Recht auf Schulbildung. Auf Drängen vieler Länderinnenminister werden jugendliche Flüchtlinge aber oft bereits mit 16 Jahren für mündig erklärt.

Der Uno-Sonderberichterstatter zeigte sich aber auch anerkennend über die vielen Reformansätze im deutschen Bildungssystem. Der "Pisa-Schock" hätte die Geschichte Deutschlands geradezu in ein "VorPisa" und ein "Nach-Pisa" geteilt. Es mangele nicht an Reform-nideen. Das Problem seien eher wirtschaftliche und politische Faktoren, so Munoz. Besonders lobend äußerte er sich zu der wachsenden Bedeutung von frühkindlicher Bildung: "Dies ist sehr positiv, nur müsste vorschulische Bildung logischerweise kostenfrei sein."

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