CHEManager 21/2004

Vegetarisches L-Cystein in Pharmaqualität

High-Tech-Produkt erfolgreich auf dem Markt etabliert

Die natürliche Aminosäure L-Cystein ist nicht nur Ausgangsmaterial für wichtige pharmazeutische Wirkstoffe, sondern dient auch als Prozesshilfsmittel bei der Proteinwirkstoffproduktion, als Baustein in der Peptidsynthese und ist Bestandteil von Diagnostikmedien. Ausgelöst durch Krisen wie BSE oder SARS, steigt die Unsicherheit bezüglich infektiöser Agenzien und daher die Nachfrage nach L-Cystein, das nicht aus tierischen oder menschlichen Rohstoffen extrahiert wird. Wacker Specialties, ein Gäschäftsbereich des Münchner Wacker-Konzerns, ist seit 2000 mit vegetarischem L-Cystein erfolgreich auf dem Mark. Dieses Produkt hat in vielen Pharmanwendungen bereits das klissische, aus Menschenhaaren und Federn gewonnene L-Cystein verdrängt.

L-Cystein ist die einzige der zwanzig natürlichen Aminosäuren, die eine Sulfhydrylgruppe (Thiolgruppe, -SH) in der Seitenkette enthält. Wegen dieser Gruppe ist L-Cystein ein Reduktionsmittel, kann Disulfidbrücken in Peptiden und Proteinen aufbrechen und wirkt als Radikalfänger. Dieses Eigenschaftsprofil wird in der Pharma- und in der Lebensmittelbranche breit genutzt. Auch in der Kosmetikindustrie stößt Cystein zunehmend auf Interesse.

Weltweit werden jährlich etwa 3.700 t L-Cystein benötigt, der Bedarf wächst jährlich um 4 %. Das Marktvolumen beträgt derzeit etwa 50 Mio.US-$ pro Jahr. Mehr als die Hälfte des weltweit produzierten L-Cysteins fließt in pharmazeutische Anwendungen, aber auch die Lebensmittelindustrie und die Hersteller von Haustierfutter setzen große Mengen der Aminosäure ein.

Anwendungen im Pharmabereich

Im Pharmabereich steht die Anwendung von L-Cystein als Ausgangstoff zur Herstellung der Cysteinderivate N-Acetyl-L-cystein und S-(Carboxymethyl)-L-cystein von der wirtschaftlichen Bedeutung her an erster Stelle. Beide Cysteinderivate dienen therapeutisch als Mucolyticum. Die SH-Gruppen - beim S-(Carboxymethyl)-L-cystein werden sie in vivo gebildet - zerstören die Disulfidbrücken von Proteinen, die im Bronchialschleim vorhanden sind, und verflüssigen so den Schleim. In jüngerer Zeit wird N-Acetyl-L-cystein auch als Nutraceutical eingesetzt, insbesondere auf dem US-amerikanischen Markt. Dieser Anwendung liegt die Tatsache zugrunde, dass L-Cystein den Glutathionspiegel erhöht und dadurch die Redoxaktivität insbesondere der Leber stärkt.

Auf Platz zwei der Pharmaanwendungen steht der Einsatz von L-Cystein als Prozesshilfsmittel zum Umfalten von gentechnisch hergestellten Proteinwirkstoffmolekülen. In dieser Funktion wird die Aminosäure etwa im Rahmen der Produktion von Humaninsulin eingesetzt. Auch diese Anwendung beruht auf der Fähigkeit der SH-Gruppen, Disulfidbrücken aufzubrechen - hier aber werden falsch geknüpfte Brücken gelöst, um sie anschließend korrekt knüpfen zu können.

Darüber hinaus wird L-Cystein in der Pharmabranche als Baustein für Protein- und Peptidwirkstoffe benötigt. Abnehmer sind Firmen, die zunächst geschützte Aminosäuren erzeugen, welche dann anschließend in der Peptidsynthese Einsatz finden. Schließlich wird die Aminosäure noch in einem ganz anderen Feld der Life-Science-Branche,

der medizinischen Diagnostik, eingesetzt. Hier fungiert sie als Bestandteil von Nährmedien, etwa von Agarplatten und Nährlösungen, die für die Anzucht von Bakterien genutzt werden.

In jüngster Zeit gewinnt L-Cystein auch in der Kosmetikbranche zunehmend an Bedeutung. In einigen kosmetischen Präparaten dient die Aminosäure als Anti-Aging-Mittel. Diese Anwendung beruht auf der Eigenschaft des L-Cysteins, als Radikalfänger zu wirken. Die Aminosäure kann daher dazu beitragen, Alterungsprozesse etwa der Haut - zu verzögern. Eine zweite Anwendung aus dem Kosmetikbereich ist vor allem für den japanischen Markt von Bedeutung: In Japan wird L-Cystein anstelle der in Europa gebräuchlichen, unangenehm riechenden Thioglycolsäure zur Vorbereitung der Haare für die Dauerwelle verwendet. Die Aminosäure löst die Disulfidbrücken des Keratins im Haar, lockert so die Haarstruktur und macht die Haare verformbar.

Vegetarische Fermentation – ein High-Tech-Prozeß

Klassischerweise wird L-Cystein aus menschlichen Haaren, Schweineborsten und Federn extrahiert. Auch heute noch wird ein Großteil des L-Cysteinbedarfs auf diese Weise gedeckt. In den letzten Jahren – angestoßen durch Krisen wie BSE oder SARS - stößt allerdings die Verwendung von tierischen und menschlichen Rohstoffen im Pharma- und Lebensmittelsektor zunehmend auf Vorbehalte und gesetzliche Beschränkungen. So schreibt die amerikanische FDA (Food and Drug Administration) die Erstellung eines ,viral safety dossier" vor, wenn Rohstoffe animalischer oder humaner Herkunft eingesetzt werden. Damit soll sichergestellt werden, dass im Produkt keine Viren oder Prionen enthalten sind.

Aus diesen Gründen ist die pharmazeutische Industrie zunehmend an Non-Human- und Non-Animal-Cystein interessiert. Als Reaktion auf die steigende Nachfrage hat Wacker Specialties ein biotechnisches Verfahren zur Herstellung von L-Cystein entwickelt, bei dem die Aminosäure fermentativ aus Glucose und anorganischen Salzen gewonnen wird. Die eigentliche Syntheseleistung erbringen in diesem Verfahren metabolisch optimierte Bakterien (Echerichia coli). Eingesetzt wird der Sicherheitsstamm E.Coli K12. Durch gezielte molekularbiologische Eingriffe wurde der Stoffwechsel der Bakterien so verändert, dass erstens die Bakterien weit mehr L-Cystein produzieren, als ihrem eigenen Bedarf entspricht, und dass sie zweitens das gebildete L-Cystein in die Nährlösung ausschleusen. Für dieses "metabolic engineering" wurden keine fremden Gene in die Bakterien eingeschleust. Wacker hält für den Prozess mehrere Patente.

Der vegetarische Fermentationsprozess findet in wässrigem Medium bei pH 7 und Temperaturen zwischen 30 und 350 C statt. Wegen der Anwesenheit von Sauerstoff wird das bakteriell erzeugte L-Cystein zu wenig löslichem L,L-Cystin oxidiert. Die entstehenden Cystinkristalle werden abgetrennt und gereinigt, das hochreine L,L-Cystin anschließend elektrolytisch zu L-Cystein reduziert. Es werden keine organischen Lösungsmittel eingesetzt, die Fermentationsbrühe kann als Düngemittel entsorgt werden. Der gesamte Prozess ist daher sehr umweltverträglich.

Überlegene Qualität

Das biotechnisch erzeugte L-Cystein hat Pharmaqualität (Reinheit > 98,5 % entsprechend Eur. Ph.), der Anteil des D-Enantiomers ist praktisch nicht determinierbar (< 0,1 %). Das Produkt entspricht den Standards der Pharma- und der Lebensmittelindustrie sowie den Vorschriften der europäischen, US-amerikanischen und japanischen Pharmakopöen.

Der Fermentationsprozess liefert L-Cystein in Konstanter Produktqualität - und zwar ausschließlich aus pflanzlichen und anorganischenRohstoffen, also aus einer vegetarischen Rohstoffbasis. Deshalb kann das Material ohne viral safety dossier eingesetzt werden. Das Wacker-Produkt ist vegetarisch, koscher und halal. Es unterliegt nicht den extremen Preisfluktuation, wie sie in letzter Zeit bei Cystein aus China öfters auftraten, und kann stets zuverlässig auch in großtechnischen Mengen geliefert werden.

Erfolg im Markt

Seit 2001 betreibt Wacker die Ferrnentation in industriellem Maßstab. Dabei werden 50.000-L-Fermenter eingesetzt. In diesem Jahr deckt das biotechnisch erzeugte L-Cystein bereits rund 15 % des WelMahresbedarfs. Dabei fließen knapp 50 % in die Pharmaindustrie, ebenfalls knapp 50 % in die Lebensn-dttelbranche, der (kleine, aber stark wachsende) restliche Anteil in die Kosmetikindustrie.

Die jährliche Wachstumsrate für das biotechnisch hergestellte Material liegt bei über 10%. Der Markt für das vegetarische Cystein wächst also deutlich schneller als der Gesamtmarkt. Das zeigt, dass dieses Material in bestimmten Anwendungen das Haar- und Feder-Material substituiert - und dass ein mit großem Aufwand neu entwickeltes High-TechVerfahren durchaus Chancen auf einem heiß umkämpften Markt hat, der von fernöstlicher Konkurrenz dominiert wird. Da zudem ein weiteres Scale-up der biotechnischen Produktion problemlos und innerhalb relativ kurzer Zeit möglich ist, steht Wacker Specialties bereit, auch zukünftige neue Bulk-Anwendungen mit vegetarischem L-Cystein zu begleiten.

Dr. Christoph Winterhalter, Manager Wacker Specialties.

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