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19 DIE ZEIT NR.34 12.AUGUST 2004, siehe dazu auch die Kommentare unter www.rki-i.com ,R.Kiehl

Nur die Reichen werden reicher
Die Reformen benachteiligen die sozial Schwachen. Es gibt immer mehr
Arme, Bettler und Suppenküchen

Im Oktober steht der Bundesregierung der nächste Schock ins Haus: der Armuts- und Reichtumsbericht. Das Papier wird Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Mannschaft an ihr Versprechen erinnern, das sie nach der Wahl 1998 abgaben: eine Politik zu betreiben, »die einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich entgegenwirkt«. Rot-Grün versprach damals, alles zu tun, damit die Verteilung des Wohlstands nicht ungleicher und die Kluft zwischen Großverdienern und kleinen Leuten nicht größer wird. Heute ist klar: Die Bundesregierung hat ihr selbst gestecktes Ziel verfehlt - und zwar -deutlich.

 

Das Thema ist politisch heikel. Auf der einen Seite tun die Spitzenverdiener im Land so, als sei es normal, dass sie ein paar Millionen Euro im Jahr verdienen. Im Vergleich zu den USA sei das eher bescheiden, argumentieren die Einkommensmillionäre vom Schlag des Bankers Josef Ackermann (7,7 Millionen Euro) oder des Daimler-Chefs Jürgen Schrempp (4,2 Millionen Euro). Auf der anderen, der Schattenseite, wächst die Angst vor der Armut. Auf den Straßen der Großstädte wird mehr gebettelt, immer mehr Kinder werden Empfänger von Sozialhilfe, die Schlangen in den Suppenküchen werden länger, Alkohol scheint vielen der einzige Ausweg. »Armut ist jetzt ganz normal«, verkündete unlängst das Caritas-Magazin Sozialcourage auf der Titelseite. Und HartzIV, nicht nur von der PDS als »Armut per Gesetz« geschmäht, vereint die Menschen zu langen Protestmärschen aus Furcht, es könnte noch schlimmer kommen.

Auf einmal ist die alte Frage wieder hoch aktuell: Werden die Reichen noch reicher, womöglich zu lasten der Armen?

Erst in jüngster Zeit ist die Antwort eindeutig. Gegen Ende der ersten rot-grünen Legislaturperiode war der Wohlstand im Land nicht gleicher, aber auch nicht ungleicher verteilt als zu Beginn; Einkommens- und Vermögensverteilung zeigten keine nennenswerten Verschiebungen. Doch seitdem geht's bergab - zumindest für die kleinen Leute. »Die Trendwende ist da, die Armut nimmt eindeutig zu«, sagt Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Er macht das an der Zahl der Sozialhilfeempfänger fest. Seit 2000 wuchs sie von 2,68 Millionen Personen auf über 2,8 Millionen. Und Schneider ist sich sicher, dass es noch mehr werden.

In Berlin bezieht heute schon jeder 13. Haushalt Sozialhilfe, allein im vergangenen Jahr wuchs ihre Zahl um 3000 auf fast 140 000. Bei monatlich 421 Euro für den laufenden Lebensunterhalt sind die Menschen für jede Hilfe dankbar. Etwa von der Berliner Tafel, die nach dem Motto »Nicht alle Menschen haben ihr täglich Brot - und doch gibt es Lebensmittel im Überfluss« Nahrung einsammelt und an Bedürftige verteilt. In 380 deutschen Städten existieren mittlerweile solche ehrenamtlich betriebenen Einrichtungen, sie versorgen Tag für Tag eine halbe Million Menschen in Not mit Lebensmitteln. Bevorzugte Ausgabenstellen: Suppenküchen und Obdachlosenheime. Immer häufiger stehen auch Menschen an, die aus einer bürgerlichen Existenz abgestürzt sind.

Und das in einem Augenblick, in dem der Reichtum in Deutschland größer ist denn je. Tatsächlich ist nichts irriger als die Vorstellung, die Deutschen insgesamt würden immer ärmer. Gerade hat die Bundesbank vorgerechnet, wie viel Geldvermögen (also Bargeld, Wertpapiere, Bankguthaben, Ansprüche an Versicherungen und Pensionskassen) die privaten Haushalte hierzulande angesammelt haben. Ende 2003 waren es fast vier Billionen Euro - das sind 1,5 Billionen mehr als noch vor zehn Jahren. Rein statistisch besitzt jeder deutsche Haushalt in Deutschland ein Geldvermögen von mehr als 100 000 Euro. Wenn man davon die Schulden abzieht, bleiben immer noch 60 000 Euro.

 

Allerdings unterscheidet diese Information nicht zwischen Arm und Reich. Abgesehen davon, dass Immobilienbesitz außer Acht gelassen wird - die Zahl gibt auch keine Auskunft darüber, wie der Reichtum verteilt ist. Nur dann aber ließe sich präzise sagen, ob der Abstand zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren gewachsen oder geschrumpft ist.

 

Seriöse Angaben über die Vermögensverteilung in Deutschland sind rar - und in der Regel veraltet. Bisher beruhten die aktuellsten Analysen auf Daten von 1998. Doch nun liegen Zahlen vor, die das Statistische Bundesamt im vergangenen Jahr in Form einer aufwendigen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermittelte. Und da bestätigen bisher unveröffentlichte Berechnungen die alte Erfahrung: Wer hat, dem wird gegeben. Und zwar reichlich.

In den vergangenen zehn Jahren ist das zusätzliche Geldvermögen vor allem jenen zugeflossen, die schon eine Menge hatten, die Ungleichheit der Verteilung hat deutlich zugenommen (siehe Tabelle). Hätte der Börsencrash von 2001 nicht gewaltige Wertpapiervermögen zerstört, wäre die Ungleichheit heute noch stärker ausgeprägt. Reiner Braun von der Forschungsgesellschaft empirica gewinnt aus den Zahlen noch eine andere Erkenntnis: Die Vermögen sammeln sich verstärkt bei älteren Bürgern an. »Gleicher wird die Gesellschaft dadurch nicht«, sagt er, »doch dahinter steht eine Generation besser abgesicherter Rentner.«

Indes sind nicht die Vermögen, sondern die Einkommen der beste Indikator dafür, wo Wohlstand und Armut zu finden sind. Eine erste Antwort gibt die Aufteilung der Einkommen auf die Faktoren Arbeit und Kapital. Der DGB schrieb im November in seinem Verteilungsbericht 2003: »Die Schere zwischen Arbeitnehmereinkommen und Gewinn- und Vermögenseinkommen hat sich in den vergangenen 20 Jahren weiter geöffnet.« Der durchschnittliche Arbeitnehmer verdiente um 124 Prozent mehr, die Gewinn- und Vermögenseinkommen kletterten dagegen um 203 Prozent.

Diese Rechnung ist freilich nicht mehr als eine grobe Annäherung, da die benutzten Einkommenskategorien nicht mehr ganz in die Welt von heute passen. So fallen Schrempp, Ackermann und Co genauso in die Kategorie »Arbeitnehmer« wie ein kleiner Angestellter der Deutschen Bank oder ein Hausmeister bei DaimlerChrysler. Die bessere Methode, um Entwicklungen in der Verteilung darzustellen, bleibt der Vergleich von Haushaltseinkommen.

Dabei zeigt sich, dass 2002 ein Wendejahr war. Bis 2001 lag der Anteil des ärmsten Fünftels der Bevölkerung am gesamten Einkommen knapp unter zehn Prozent, 2002 sackte der Anteil auf 9,3 Prozent ab. Gleichzeitig erreichte der Anteil des reichsten Fünftels an allen Einkommen eine Höchstmarke von 36,4 Prozent.

In den neuen Bundesländern, deren Werte seit 1990 ermittelt werden, ist die Ungleichheit beträchtlich geringer als im Westen, aber auch dort wächst sie kontinuierlich. Zwar muss man im Osten die Superreichen nach wie vor mit der Lupe suchen, aber die Zahl der Haushalte mit äußerst bescheidenen Einkommen nimmt langsam zu. Hanna Haupt vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg umschreibt das so: »Die Ausreißer nach oben kann man an fünf Fingern abzählen, die nach unten werden dagegen immer

mehr.«

Aber wo fängt Armut an? Da hat jede Definition etwas Willkürliches. Ein armer Deutscher ist superreich im Verhältnis zu einem Armen in der Dritten Welt. Und selbst hierzulande müssen auch Arme in der Regel nicht hungern. Nach einer gebräuchlichen Abgrenzung gilt in Europa ein Haushalt als arm, dem weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens aller Haushalte zur Verfügung steht. Diese Grenze lag 2002 bei monatlich 1177 Euro. Der Anteil der »armen« Haushalte sank nach diesem Maßstab in Deutschland in den Jahren bis 2001 fast kontinuierlich auf 9,4 Prozent, 2002 schnellte er abrupt auf 11,1 Prozent hoch (siehe Tabelle). Bemerkenswert ist dabei, dass offensichtlich in jüngster Zeit auch ein paar Betuchte aus der Kategorie »Wohlstand« (mehr als 150 Prozent des Durchschnittseinkommens) herausgefallen sind.

Unübersehbar ist der Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitslosigkeit. In den ersten vier Jahren der Regierung Schröder bildete sich die Arbeitslosigkeit (wenn auch langsam) zurück. Doch mit der unerwartet langen Phase der Wirtschaftlichen Stagnation stieg sie wieder - und mit ihr die Zahl der Haushalte, die in die unteren Finkommensklassen abrutschten. Das Jahr 2002 brachte die Wende zum Schlechten. So heißt es im demnächst erscheinenden Datenreport des Statistischen Bundesamtes: »Alle Indikatoren weisen ungeachtet des zugrunde liegenden Einkommenskonzeptes für 2002 eine deutliche Zunahme der Armut gegenüber dem vorausgehenden Jahr aus.« Inzwischen ist das Risiko eines Arbeitslosen, unter die Armutsgrenze zu fallen, mehr als dreimal so hoch wie das von Beschäftigten.

Altersarmut dagegen ist - entgegen einer verbreiteten Meinung - kein dramatisches Problem in Deutschland. Vor ein paar Monaten kam das Deutsche Institut fiir Wirtschaftsforschung Berlin (DM zu dem Schluss, dass »die Einkommensposition alter Menschen nicht viel unter dem Durchschnitt aller Haushalte liegt und die Mehrzahl finanziell sogar besser gestellt ist als Familien mit Kindern«. Seit Mitte der Achtziger Jahre konnten die Alten (mit kurzer Unterbrechung nach der Wiedervereinigung) ihre Einkommensposition nachhaltig verbessern.

Erstaunlich gut gestellt sind die Rentner in Ostdeutschland - noch. Nur wenige fallen unter die Armutsgrenze, ihre Arbeitsbiografien sichern ihnen eine solide Altersrente, häufig zwei pro Haushalt. Doch die vielen jungen und weniger jungen Arbeitslosen werden schnell beim Arbeitslosengeld II landen, danach mit Minirenten auskommen müssen und in der Sozialhilfe landen. »Das wird ein galoppierender Prozess«, warnt Sozialforscherin Haupt, »in zehn Jahren wird die Armutsrate Ost rapide wachsen.«

Auch wenn es sich nicht wegdiskutieren lässt, dass die Reichen weiter gut leben und die Armen deutlich ärmer werden: »Die Entwicklung war bisher nicht dramatisch«, sagt Heinz-Herbert Nofi, Experte für soziale Indikatoren im Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA). Jedenfalls steht im europäischen Vergleich Deutschland immer noch deutlich besser da als der Durchschnitt. Stolz meldete die Bundesregierung in ihrem Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung vom Frühjahr nach Brüssel: »Deutschland gehört damit gemeinsam mit den skandinavischen Ländern und zum Beispiel den Niederlanden zu den EU-Ländern mit relativ geringer Armut und sozialer Ausgrenzung.«

 

Doch inzwischen räumt selbst die Bundesregierung ein, dass das Armutsrisiko hierzulande größer geworden ist. Der Grund ist schnell ausgemacht: die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. »Hartz IV erzeugt Armut" weiß Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Und die Versicherung von Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement, niemand werde abstürzen, jeder werde ein Auskommen haben? Dafür hat Schneider nur ein Kopfschütteln übrig.

In zweifelhafter VerfassungVerstößt Hartz IV gegen das Grundgesetz? Jenseits aller populistischen Debatten hegen Juristen Bedenken

Soziale Ausgrenzung, ein Verstoß gegen die Eigentumsgarantie und der Eingriff in die Vertragsfreiheit: Das könnten die wesentlichen Punkte der Reform sein, die mit den Grundrechten kollidieren

Agentur statt Anstalt, Jobcenter statt Ämter, Fallmanager statt Sachbearbeiter und Kunden statt Arbeitslose. Das alles klingt modern. Die neuen Begriffe sollen der Arbeitsbehörde in Nürnberg ein neues Image verpassen. Als sie sich noch Anstalt nannte, geriet sie ins Visier der Prüfer vom Bundesrechnungshof.-. Die enttarnten sie als ineffizienten Moloch; ein verheerendes Resultat - mit weitreichenden Folgen. Vor allem für jene Kunden, die der heutigen Agentur noch immer treu sein müssen. Im Juli wurden 4,36 Millionen arbeitslosen Menschen gerade einmal knapp 300 000 Stellen offeriert.

Hartz I, II, III und IV heißen die Gesetze, die dem Sozialstaat Deutschland die härtesten Einschnitte in seiner Geschichte verordnen. Vor allem Hartz IV, dabei geht es um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (Alg II), löst Angst aus. Zunächst schien es so, als fände das Mammutprojekt von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement - bis auf wenige Nörgler - breite Anerkennung. Doch inzwischen wächst mit jedem Tag die Kritik.

Sie reicht von dem grundsätzlichen Vorwurf, Millionen von Menschen in die Armut zu stürzen, bis hin zu Details, deren Sprengkraft nur noch Fachleute erkennen. jenseits aller populistisch angeheizten Debatten kommen ernste Sorgen auf, dass die Hartz-Gesetze zum Teil rechtlich fragwürdig sind. Selbst verfassungsrechtliche Bedenken werden laut.

»Wir sprechen über handwerklich äußerst schlecht gemachte Gesetze«, bemängelt Utz Krahmer, Professor am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften an der Fachhochschule Düsseldorf Sie seien zum Teil über Nacht von völlig überlasteten Ministerialbeamten im 24-stündigen Drei-Schichten-Dienst unter ungeheurem Zeitdruck nach den Vorgaben der politischen Spitzen zurechtgezimmert worden. Krahmer hat sich durch seine Kommentare zum Sozial- und Verwaltungsrecht in der Fachwelt einen Namen gemacht. Er ist nicht der Einzige, der »Konfliktlagen« mit der Verfassung sieht.

Heinrich Lang, Verfassungsrechtler an der.Universität Köln, macht auf mögliche Probleme mit der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes aufmerksam. Etliche Bedenken wurden bislang auch nur in einschlägigen Fachkreisen erörtert. So äußerten sich Uwe Berlit und Ralf Rothkegell beide am Bundesverwaltungsgericht als Richter tätig, in wissenschaftlichen Beiträgen für Fachzeitschriften zu konkreten Aspekten der Reform. In einzelnen Punkten hegen auch sie Zweifel, ob die Vorgaben von Hartz IV noch rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen. Oder ob die neuen Regelsätze, welche die Höhe der Leistungen für den Lebensunterhalt bestimmen, dem Verfassungsgebot einer ausreichenden Existenzsicherung überhaupt genügen.Die Eigentumsgarantie. Artikel 14 des Grundgesetzes umfasse den Schutz sozialrechtlicher Leistungsansprüche, wenn diese auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhten, so Verfassungsrechtler Heinrich Lang. Für Ansprüche auf Arbeitsloseahilfe sei dies zwar mit dem Hinweis auf eine Steuerfinanzierung streitig. Doch diese Argumentation verkürze das Problem. Denn die heutige Arbeitslosenhilfe schließe sich an das Arbeitslosengeld an, sei deshalb nicht ohne vorherige Beitragsleistung denkbar. je höher der Eigenleistungsanteil, desto geschützter sei der Anspruch. Eine vollständige Streichung sei jedenfalls »verfassungsrechtlich nicht ohne Risiko«.

Zudem plädiert Lang dafür, die Sozialversicherungen insgesamt zu betrachten. Der Bürger müsse nicht nur Kürzungen im Bereich der Arbeitslosenversicherung, sondern auch bei der Kranken- und Rentenversicherung hinnehmen. Wenn aber die Krankenbehandlung auf eine Grundversorgung, die Rentenversicherung auf eine Grundrente und die Arbeitslosenversicherung auf einen Bezugszeitraum von regelmäßig einem Jahr heruntergefahren würden, sei fraglich, ob derartige Kürzungen - jedenfalls in der Zusammenschau - nicht als kumulativer Grundrechtseingriff zu qualifizieren seien. Dessen verfassungsrechtliche Rechtfertigung erfordere mehr als den Hinweis auf knappe Kassen.

 

Die Regelsätze. Künftig wird allen Alg-II-Beziehern unabhängig von der Höhe ihres früheren Nettogehalts ein fixer Geldbetrag als Grundsicherung für ihren Lebensunterhalt gezahlt, der den Regelsätzen in der Sozialhilfe entspricht. Beispielsweise bekommen Singles 345 Euro (im Westen) oder 331 Euro (im Osten). Gemessen an dem Verfassungsgebot, das Existenzminimum sicherzustellen, könnten sie zu niedrig ausgefallen sein, argwöhnt Bundesverwaltungsrichter Ralf Rothkegel. Er bestreitet vor allem die Eignung der Methode, die der Berechnung des Bedarfs zugrunde gelegt wurde. Zwar behaupte der Gesetzgeber, »ein schlüssiges und einfaches Verfahren zur Bemessung der Regelsätze« gefunden zu haben, »das geeignet ist, das soziokulturelle Existenzminimum dauerhaft zu sichern«. Doch Rothkegel hat da seine Zweifel. Es basiere »auf höchst fragwürdigen Annahmen«, so der Verwaltungsrichter. Die analysiert er akribisch in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift ZFSHISGB und kommt zu dem Ergebnis, dass eine soziale Ausgrenzung der Betroffenen nicht ausgeschlossen sei. Die aber toleriere das Grundgesetz nicht.Die Pauschalierung. Lange Zeit konnten Sozialhilfeempfänger einen einmaligen Bedarf zum Beispiel für die Renovierung der Wohnung oder neue Winterschuhe für die Kinder geltend machen. Sie bekamen dafür zusätzliches Geld. Das wurde geändert und bedeutet für die Alg-II-Empfänger, dass der Regelsatz nun komplett alle Ausgaben abdecken muss; Sonderleistungen gibt es nicht mehr bis auf wenige Ausnahmefälle, die der Betroffene nachzuweisen hat. »Und das auch nur dann, wenn Sachleistungen aus Kleiderkammern oder Gebrauchtwarenlagern nicht möglich sind«, stellt Krahmer klar. Doch selbst in diesen Fällen werden Darlehen vergeben, die auch dann zurück zu zahlen sind, wenn der Hilfsbedürftige noch gar keinen Job hat. Sie müssen künftig aus der Regelleistung mit »bis zu 10 Prozent« getilgt werden. Aber nur, wenn diese Tilgung so niedrig gestaltet sei, dass keine soziale Ausgrenzung geschehe, so Krahmer, stünde das im Einklang mit der Verfassung. Denn Alg II sei eine Fürsorgeleistung, »die wie die Sozialhilfe ein würdevolles Leben, das heißt eine sozial integrierte Existenz garantieren muss «.Der Ermessenspielraum. Für all jene, die künftig nicht schnell genug einen neuen Job finden, wird Fallmanager im Jobcenter eine zentrale Rolle spielen. Er ist der Ansprechpartner, wenn es darum geht, ob das Ersparte zu hoch oder die Lebensversicherung zu üppig ist, um Alg II zu beziehen. Geprüft wird ebenfalls, ob es in der »Bedarfsgemeinschaft« jemanden gibt, der zur Versorgung herangezogen werden kann. Und erst, wenn Hilfsbedürftigkeit attestiert wird, besteht ein Anspruch auf staatliche Unterstützung - auch durch Vermittlung eines Jobs, wenn er denn zu finden ist. So weit, so gut - wären da nicht das »Ermessen« und die »Zumutbarkeit«, zwei Begriffe, die den Fallmanagern große und streitbare Spielräume geben.

So macht beispielsweise stutzig, dass der Chef der Bundesagentur, Frank Weise, sagt, »dass es unsinnig sei, einen Manager zum Parkfeger zu machen«. Würde es bei seinem Buchhalter sinnhaft? Nach welchen Kriterien wird entschieden, wer für einen Euro die Stunde Laub fegen muss? Antwort aus dem Wirtschaftsministerium: »Die Fallmanager werden bestrebt sein, die Arbeitslosen gemäß ihrer Qualifikation zu vermitteln.« Und wenn sich ein solcher Job nicht findet? Dann eben wird der Fallmanager nach seinem Ermessen entscheiden, was zumutbar ist.»Angemessen« ist auch das Schlüsselwort bei der Frage, ob die Betroffenen umziehen müssen,

weil sie in einer zu teuren oder zu großen Wohnung leben. Das bestimmen die Kollegen vom örtlichen Sozialamt,. weil die Kommunen die Unterkunftskosten tragen. Diese richten sich danach, was bislang Sozialhilfeempfängern zugestanden wurde. Und das variiert von Region zu Region, weil sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt unterscheidet. In Schnitt werden beispielsweise einem Single 45 Quadratmeter und 318 Euro zugebilligt. »Wer nur leicht über den Grenzen liegt, wird nicht gleich umziehen müssen«, sagt beispielsweise Gunnar Uldall, Wirtschaftssenator in Hamburg. Aber was heißt leicht, und wo verläuft die Grenze? Vor allem bei Eigenheimen, die womöglich verkauft werden müssen?

»Einzelfallentscheidungen liegen im Ermessen des Betreuers«, heißt es im Bundeswirtschaftsministerium. Und obwohl Minister Wolfgang Clement von einer Umzugswelle offiziell nichts wissen will, baut er schon mal vor: »Sollte sich in der Praxis ergeben, dass die kommunalen Träger einen zu engen Maßstab anlegen, kann das Bundesministerium von seiner Verordnungsermächtigung Gebrauch machen. « Für viele könnte es dann zu spät sein.Die Eingliederungsvereinbarung. Wer auf Alg II angewiesen ist, muss eine Eingliederungsvereinbarung unterschreiben. Sie legt fest, was der Hilfesuchende zu erwarten hat und wozu er sich verpflichtet. Das kann die Annahme eines Jobs sein der Besuch einer Schuldnerberatung oder auch die Aufnahme einer Therapie bei Sucht- oder Familienproblemen. Angestrebt wird eine »passgenaue" Beratung.»Dies ist im Ansatz wirklich nicht zu kritisieren« so Verwaltungsrichter Berlit. Gleichwohl weiß er um die Personalprobleme der Behörde. Selbst bei bei einer optimalen Führung verschärfe der schwierige und komplexe Umstrukturierungsprozess dies Probleme noch. Und das bei erheblich erweiterten Machtbefugnissen. Der Hilfsbedürftige habe keinen wirksamen Schutz gegen »unqualifizierte, überforderte oder gar böswillige Fallmanager«. Die Verhandlungssituation sei wirksamer gerichtlicher Kontrolle nicht zugänglich, bemängelt Berlit.Wollen die Arbeitslosen keine Einbußen hinnehmen, müssen sie unterschreiben,. »Mangels realer Wahlmöglichkeiten wird die freiheits- und sicherheitsstiftende Wirkung von Vereinbarungen in ihr Gegenteil verkehrt«, so Berlit. Dies schließe bei problembewussten und fair agierenden Fallmanagern sinnvolle und nutzbringende Vereinbarungen nicht aus. Aber diese Voraussetzung sei weder gesetzlich gesichert, noch ließe sie sich sichern. Der »sanktionsbewehrte Kontrahierungszwang, greife unverhältnismäßig in die durch das Grundgesetz geschützte Vertragsfreiheit ein, so sein Resumee. Hoheitlicher Eingriff und soziale Dienstleistung würden vermischt.Dringenden Änderungsbedarf sieht Berlit auch bei den Sanktionen für Arbeitslose unter 25 Jahren. Ihnen wird Alg II sofort und komplett gestrichen, wenn sie keine Vereinbarung schließen oder gegen deren Vorgaben verstoßen; und zwar immer und ausnahmslos für drei Monate. Selbst wenn sie ihr Fehlverhalten schnell erkennen und sich eines Besseren besinnen, bleibt das Geld gesperrt. Diese Streichungsautomatik gehe an den Integrationsproblemen jugendlicher völlig vorbei.

 

Verfassungsrechtliche Bedenken kommentiert ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums so: »Sie können davon ausgehen, dass alle Gesetze im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens auf ihre Verfassungsgemäßheit geprüft werden. « Heinrich Lang von der Universität Köln ist trotzdem der Meinung, dass Hartz IV vor dem Verfassungsgericht landet. Im Übrigen wundert es ihn, dass viele offensichtlich noch glaubten, überwiegend sei nur die Unterschicht betroffen. Lang: »Das

aber ist nicht der Fall.«

 

 

Handels Hemmnis

Was den Konsumenten fehlt: Geld und innovative ProdukteFrüher war der Sommerschlussverkauf bis ins letzte Detail gesetzlich geregelt: Die Händler durften Mountainbikes billiger anbieten, Hollandräder aber nicht. Rabatte auf Koffer gab es nur, wenn sie aus Leder waren und nicht aus Plastik. Solch unsinnige Vorschriften gibt es seit Anfang Juli nicht mehr, und davon erhofften sich viele einen regelrechten Konsumschub. Der aber blieb aus, sofern man den Reaktionen nach dem ersten selbst organisierten Sommerschlussverkauf glauben darf. Die Bilanz des Einzelhandels: Man könne zufrieden sein. Und der Umsatz? Ach, der sei doch nicht so wichtig.

Von wegen. Das Ergebnis beweist zweierlei: Erstens steht es nach wie vor schlecht um den Konsumstandort Deutschland. Und zweitens waren die absurden Regeln von damals offenbar nicht dafür verantwortlich, dass die Kunden knapsten. Was fehlt, sind Geld und Ideen.

Seit Jahren ist die Stimmung der Verbraucher schlecht. Nach einer kleinen Verbesserung im Juni ist ihre Erwartung an ihre persönliche Einkommensentwicklung wieder gesunken, ebenso ihre Bereitschaft, Geld auszugeben. Statt zum Einkaufen gehen viele lieber zum Demonstrieren in die Innenstädte. Hartz IV werde dem Land im kommenden Jahr rund drei Milliarden Euro Kaufkraft entziehen, schätzt die HypoVereinsbank.

Doch selbst wenn dieses Geld vorhanden wäre, wofür wollte man es ausgeben? Die Konsumgüterindustrie präsentiert seit Jahren vor allem Scheininnovationen und verklärt jede Änderung am Verpackungsdesign zur Sensation. Solange echte Ideen mit Mehrwert ausbleiben (wie zuletzt die Erfindung von Handy oder Internet), wird Einkaufen kein Massenphänomen. Ein Placebo wie der Schlussverkauf wird daran nichts ändern. Er ist kaum mehr als eine

Totenfeier. MARCUS ROHWETTER

 

 

 

 

 

Kommentar R.Kiehl: Dazu kommen die Zumutbarkeitsregeln, die es unmöglich machen, jemals wieder in einen normalen Job zu kommen –

Die Altersvorsorge ist weg –

Die Höhe des Al 2 (HIV) ist zu nieder,

Die Arbeitslosenversicherung wird nicht bedient, auch von den Arbeitslosen muß der Beitrag weiter bezahlt werden..., die Kassen werden noch leerer als diese eh schon sind,

etc....

 

Man kann die anderen Staaten, Länder,... nicht mit dem gewachsenen Deutschland vergleichen:

Bismark und Adenauer schufen einen Sozialstaat, gaben diesem die grundsätzlichen Gesetze...

Schröder und andere zerstören diesen zugunsten

eines Ellbogenstaates...der Spitzensteuersatz darf nicht gesenkt werden: eine generelle Steuerreform muß her...